Anhang: § 15b Insolvenzordnung (InsO) Zahlungen bei Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung; Verjährung
(1) Die nach § 15a Absatz 1 Satz 1 antragspflichtigen Mitglieder des Vertretungsorgans und Abwickler einer juristischen Person dürfen nach dem Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder der Überschuldung der juristischen Person keine Zahlungen mehr für diese vornehmen. Dies gilt nicht für Zahlungen, die mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar sind.
(2) Zahlungen, die im ordnungsgemäßen Geschäftsgang erfolgen, insbesondere solche Zahlungen, die der Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs dienen, gelten vorbehaltlich des Absatzes 3 als mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar. Im Rahmen des für eine rechtzeitige Antragstellung maßgeblichen Zeitraums nach § 15a Absatz 1 Satz 1 und 2 gilt dies nur, solange die Antragspflichtigen Maßnahmen zur nachhaltigen Beseitigung der Insolvenzreife oder zur Vorbereitung eines Insolvenzantrags mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters betreiben. Zahlungen, die im Zeitraum zwischen der Stellung des Antrags und der Eröffnung des Verfahrens geleistet werden, gelten auch dann als mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar, wenn diese mit Zustimmung eines vorläufigen Insolvenzverwalters vorgenommen wurden.
(3) Ist der nach § 15a Absatz 1 Satz 1 und 2 für eine rechtzeitige Antragstellung maßgebliche Zeitpunkt verstrichen und hat der Antragspflichtige keinen Antrag gestellt, sind Zahlungen in der Regel nicht mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar.
(4) Werden entgegen Absatz 1 Zahlungen geleistet, sind die Antragspflichtigen der juristischen Person zur Erstattung verpflichtet. Ist der Gläubigerschaft der juristischen Person ein geringerer Schaden entstanden, beschränkt sich die Ersatzpflicht auf den Ausgleich dieses Schadens. Soweit die Erstattung oder der Ersatz zur Befriedigung der Gläubiger der juristischen Person erforderlich ist, wird die Pflicht nicht dadurch ausgeschlossen, dass dieselben in Befolgung eines Beschlusses eines Organs der juristischen Person gehandelt haben. Ein Verzicht der juristischen Person auf Erstattungs- oder Ersatzansprüche oder ein Vergleich der juristischen Person über diese Ansprüche ist unwirksam. Dies gilt nicht, wenn der Erstattungs- oder Ersatzpflichtige zahlungsunfähig ist und sich zur Abwendung des Insolvenzverfahrens mit seinen Gläubigern vergleicht, wenn die Erstattungs- oder Ersatzpflicht in einem Insolvenzplan geregelt wird oder wenn ein Insolvenzverwalter für die juristische Person handelt.
(5) Absatz 1 Satz 1 und Absatz 4 gelten auch für Zahlungen an Personen, die an der juristischen Person beteiligt sind, soweit diese zur Zahlungsunfähigkeit der juristischen Person führen mussten, es sei denn, dies war auch bei Beachtung der in Absatz 1 Satz 2 bezeichneten Sorgfalt nicht erkennbar. Satz 1 ist auf Genossenschaften nicht anwendbar.
(6) Die Absätze 1 bis 5 gelten auch für die nach § 15a Absatz 1 Satz 3 und Absatz 2 zur Stellung des Antrags verpflichteten organschaftlichen Vertreter der zur Vertretung der Gesellschaft ermächtigten Gesellschafter.
(7) Die Ansprüche aufgrund der vorstehenden Bestimmungen verjähren in fünf Jahren. Besteht zum Zeitpunkt der Pflichtverletzung eine Börsennotierung, verjähren die Ansprüche in zehn Jahren.
(8) Eine Verletzung steuerrechtlicher Zahlungspflichten liegt nicht vor, wenn zwischen dem Eintritt der Zahlungsunfähigkeit nach § 17 oder der Überschuldung nach § 19 und der Entscheidung des Insolvenzgerichts über den Insolvenzantrag Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis nicht oder nicht rechtzeitig erfüllt werden, sofern die Antragspflichtigen ihren Verpflichtungen nach § 15a nachkommen. Wird entgegen der Verpflichtung nach § 15a ein Insolvenzantrag verspätet gestellt, gilt dies nur für die nach Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters oder Anordnung der vorläufigen Eigenverwaltung fällig werdenden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis. Wird das Insolvenzverfahren nicht eröffnet und ist dies auf eine Pflichtverletzung der Antragspflichtigen zurückzuführen, gelten die Sätze 1 und 2 nicht.
Für den Rechtsverkehr
(für Nichtjuristen)
zum Expertenteil (für Juristen)
Bedeutung für den Rechtsverkehr, häufige Anwendungsfälle
Kommentierung zu § 15b InsO
Inhaltsverzeichnis
I. Rechtsverkehr
1. § 15b InsO aus Sicht des Geschäftsleiters
a) Handlungsgebote im Vorfeld der Insolvenz
aa) Prüfen von Insolvenzgründen
(1) Zahlungsunfähigkeit
(a) Toleranzen
(b) Vermeidung der Zahlungsunfähigkeit
(2) Überschuldung
(a) Rechnerische Überschuldung
(b) Fortführungsprognose
bb) Insolvenzantragstellung
cc) Zurückhalten von Zahlungen
(1) Keine Zahlungen
(2) Keine sonstigen Vermögensminderungen
(3) Keine Notgeschäftsführung
(4) Haftungsrisiken im Falle einer eingetretenen Insolvenz
2. Aus Sicht der Gesellschaft
a) Darlegung der Zahlungsunfähigkeit
b) Darlegung der Überschuldung
c) Darlegung der verbotenen Auszahlungen
d) Wirtschaftliche Durchsetzbarkeit
3. Aus Sicht der Gesellschafter
4. § 15b InsO aus Sicht Dritter
II. Expertenhinweise
1. Allgemeines
a) Regelungsgehalt
b) Zweck
c) Bedeutung
d) Struktur/Natur
2. Definitionen
a) Eintritt der Zahlungsunfähigkeit
aa) Zahlungsunfähigkeit
(1) Stichtagsbezogener Liquiditätsstatus
(2) Zeitraumbezogener Liquiditätsstatus
(3) Weitere Entwicklung.
bb) Zahlungseinstellung
cc) Eintritt
b) Feststellung der Überschuldung
aa) Fortbestehensprognose
(1) Prognosezeitraum
(2) Anforderungen
bb) Überschuldungsbilanz zu Liquidationswerten
(1) Wertansatz der Aktiva
(a) Sachanlagen
(b) Finanzanlagen und Beteiligungen
(c) Immaterielle Vermögenswerte und Geschäfts- oder Firmenwert
(d) Gegenstände mit Aus- oder Absonderungsrechten
(e) Vorräte, unfertige Erzeugnisse, Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe
(f) Forderungen
(g) Ansprüche gegen Gesellschafter und Geschäftsleiter
(h) Patronatserklärung
(i) Aktive Rechnungsabgrenzungsposten
(2) Wertansatz der Passiva
(a) Verbindlichkeiten
(b) Streitige Verbindlichkeiten
(c) Besicherte Verbindlichkeiten
(d) Nachrangige Verbindlichkeiten
(e) Rangrücktritt
(f) Rückstellungen
(g) Pensionsverpflichtungen
(h) Ansprüche von Gesellschaftern
(i) Rückgewähransprüche von öffentlichen Zuwendungen
(j) Passive Rechnungsabgrenzungsposten
cc) Überprüfung der Überschuldung
c) Leistung von Zahlungen
aa) Zahlungen
bb) Entfallen der Ersatzpflicht bei Ausgleich durch Gegenleistung
cc) Zahlungen im ordnungsgemäßen Geschäftsgang
d) Kappungsgrenze
e) Subjektiver Tatbestand
f) Anfechtbarkeit der verbotswidrig geleisteten Zahlungen
g)
h) Verjährung
3. Abgrenzungen, Kasuistik
4. Prozessuales
5. Anmerkungen
I. Rechtsverkehr
1§ 15b InsO ist die (neue) zentrale Norm für die Haftung des Leitungsorgans in der Krise einer haftungsbeschränkten Gesellschaft. Stellt ein organschaftlicher Vertreter trotz Insolvenzreife der Gesellschaft den Insolvenzantrag zu spät, haftet er nach dieser Vorschrift unter Umständen in ganz beträchtlicher Höhe.
2Kommt es zur Insolvenz einer Gesellschaft, gehört es zum Standardrepertoire eines Insolvenzverwalters zu überprüfen, ob rechtzeitig Insolvenzantrag gestellt wurde und – falls nicht – ob der Geschäftsleiter deswegen persönlich haftet.
3Es ist immer wieder zu beobachten, dass es die größte Sorge der Vertretungsorgane bei verspäteter Insolvenzantragstellung ist, sich wegen Insolvenzverschleppung strafbar gemacht zu haben. Die Haftungsfolgen nach § 15b InsO treffen sie aber meistens deutlich härter als die Strafbarkeit.
1. § 15b InsO aus Sicht des Geschäftsleiters
a) Handlungsgebote im Vorfeld der Insolvenz
4Das zentrale Handlungsgebot an den Geschäftsleiter aus § 15b InsO ist, regelmäßig zu überprüfen, ob Insolvenzgründe (Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung) vorliegen könnten, sobald es erste Anzeichen für eine Krise des Unternehmens gibt. Diese Verpflichtung ist nunmehr auch in § 1 I StaRUG kodifiziert, wonach die Mitglieder des zur Geschäftsführung berufenen Organs einer juristischen Person fortlaufend über Entwicklungen, welche den Fortbestand der juristischen Person gefährden können, zu wachen haben. Liegen Insolvenzgründe vor, muss der Geschäftsleiter gem. § 15a I InsO ohne schuldhaftes Zögern Insolvenzantrag stellen, spätestens innerhalb von drei Wochen im Falle von Zahlungsunfähigkeit und innerhalb von sechs Wochen bei Überschuldung.bis zum 31.12.2023 innerhalb von acht Wochen, § 4a SanInsKG Solange er mit der Insolvenzantragstellung noch zuwartet, z. B. um Sanierungsmöglichkeiten zu prüfen, darf er Zahlungen und sonstige vermögensmindernde Maßnahmen in der Drei- bzw. Sechs-Wochen-Frist nur im ordnungsgemäßen Geschäftsgang, und danach gar nicht mehr zulassen, wenn er seine persönliche Haftung vermeiden will.
aa) Prüfen von Insolvenzgründen
(1) Zahlungsunfähigkeit
5Ein zahlungsfähiges Unternehmen muss zu jeder Zeit in der Lage sein, seine fälligen Verbindlichkeiten zu bedienen. Zahlungspflichten sind zu dem Zeitpunkt fällig, zu dem das vereinbarte oder vom Gläubiger eingeräumte Zahlungsziel abläuft. Lautet der Rechnungstext zum Beispiel „zahlbar innerhalb von 20 Tagen rein netto“ muss die Rechnung ohne Abzüge innerhalb von 20 Tagen bezahlt werden. Enthält eine Rechnung einen solchen Text nicht, ist sie sofort zur Zahlung fällig, nicht erst – wie vielfach geglaubt wird – nach 30 Tagen oder mit Eintritt des Zahlungsverzugs. Die häufig anzutreffende Praxis, Lieferantenrechnungen „liegen zu lassen“ und erst nach der ersten oder zweiten Mahnung zu bezahlen – was von Lieferanten mit Rücksicht auf die Geschäftsbeziehung oftmals toleriert wird – ist bei einer haftungsbeschränkten Gesellschaft nicht erlaubt.
6Ist eine Gesellschaft nicht in der Lage, ihre sämtlichen fälligen Verbindlichkeiten zu bezahlen, ist sie zahlungsunfähig.
(a) Toleranzen
7Der Bundesgerichtshof toleriert dabei eine (vorübergehende) Deckungslücke von weniger als 10 %. Eine GmbH muss demnach zumindest 90 % ihrer fälligen Verbindlichkeiten bezahlen können, um nicht zahlungsunfähig zu sein. Dies gilt aber nur, wenn nicht schon absehbar ist, dass die Deckungslücke demnächst größer als 10 % sein wird. Ob eine 10 %-ige Deckungslücke auf Dauer toleriert werden kann, wird unterschiedlich gesehen.dafür: Baumert, NZI 2015, 589, 592: „kleine Bugwelle“; dagegen IDW S 11 (2021), Rn. 17
8Der Bundesgerichtshof erlaubt ferner Deckungslücken von mehr als 10 %, wenn diese innerhalb von drei Wochen wieder beseitigt oder auf weniger als 10 % reduziert werden können. Kann eine Gesellschaft weniger als 90 % ihrer fälligen Verbindlichkeiten bezahlen, ist sie dennoch nicht zahlungsunfähig, wenn sie insgesamt mindestens 90 % ihrer fälligen Verbindlichkeiten zumindest innerhalb der nächsten drei Wochen bedienen kann. Eine solche Situation wird „Zahlungsstockung“ genannt.
9In extremen Ausnahmefällen toleriert der Bundesgerichtshof auch eine längere Überschreitung einer liquiden Unterdeckung von 10 %, wenn die Liquiditätslücke demnächst (drei bis sechs Monate) „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ vollständig oder fast vollständig geschlossen werden kann. Hier darf am Ende im Prinzip gar keine oder nahezu keine Liquiditätslücke mehr verbleiben, auch keine Lücke von nur 10 %. Da diese Ausnahme mit extremen Unsicherheiten behaftet ist, kann diese nur in enger Abstimmung mit rechtlichen und betriebswirtschaftlichen Beratern „riskiert“ werden. In der Regel ist davon kein Gebrauch zu machen.
(b) Vermeidung der Zahlungsunfähigkeit
10Sofern eine Zahlungsunfähigkeit droht, könnte diese z. B. durch eine entsprechende Mittelzufuhr vermieden werden. Der Geschäftsleiter muss also im Rahmen einer Liquiditätsplanung darauf achten, dass die erforderliche Liquidität rechtzeitig zur Verfügung gestellt wird, z. B. durch eine Erweiterung der bestehenden Kreditlinien oder indem die Gesellschafter die erforderlichen Mittel einlegen oder als Gesellschafterdarlehen zur Verfügung stellen. Möglich ist auch, Güter zu verkaufen und auf diese Art Liquidität zu generieren. Gängige Methoden zur Liquiditätsbeschaffung sind auch das Factoring oder das Sale-and-lease-back von Anlagegütern. Da die oben genannte Drei-Wochen-Frist für diese Maßnahmen in der Regel nicht ausreicht, sollten diese rechtzeitig geplant und in Angriff genommen werden.
11Können die erforderlichen Mittel nicht kurzfristig beschafft werden, können auch mit den Gläubigern Stundungsabreden getroffen werden. Diese müssen aber gut dokumentiert werden, in der Regel schriftlich, damit sie später erforderlichenfalls auch bewiesen werden können.
(2) Überschuldung
(a) Rechnerische Überschuldung
12Ein Unternehmen ist überschuldet, wenn sein Vermögen die Verbindlichkeiten wertmäßig nicht mehr deckt, sprich, wenn die Passiva die Aktiva übersteigen und das Eigenkapital somit negativ ist. Bei einer haftungsbeschränkten Gesellschaft verpflichtet schon die Überschuldung zur Insolvenzantragstellung, selbst wenn die Gesellschaft noch zahlungsfähig ist, also alle fälligen Verbindlichkeiten bedienen kann. Während die Zahlungsunfähigkeit „physisch“ spürbar wird (man merkt in der Regel, wenn man seine Rechnungen nicht mehr bezahlen kann), passiert die Überschuldung eher „schleichend“. Deswegen ist sie für die Vertretungsorgane so gefährlich, weil die Geschäftsleiter auch bei einer überschuldeten Gesellschaft haften (und sich ggf. strafbar machen), wenn sie das Unternehmen weiterführen und keinen Insolvenzantrag stellen. Die Überschuldung ist deswegen so schwer erkennbar, weil die Überschuldung im Sinne des Insolvenzrechts nicht identisch ist mit einer Überschuldung in der Handels- oder Steuerbilanz.
13Weist die Handels- oder Steuerbilanz einen nicht durch Eigenkapital gedeckten Fehlbetrag aus, wird man zumeist auch von einer Überschuldung im insolvenzrechtlichen Sinne ausgehen müssen. Ist das der Fall, muss unverzüglich darüber nachgedacht werden, ob und ggf. wie die Überschuldung beseitigt werden kann. Andernfalls muss Insolvenzantrag gestellt werden.
14Oftmals ist aber ein Unternehmen auch überschuldet, obwohl die Handels- oder Steuerbilanz noch ein positives Eigenkapital ausweist. Die Handels- oder Steuerbilanz geht nämlich von einer Fortführungsannahme aus (
(b) Fortführungsprognose
15Auf die rechnerische Überschuldung kommt es aber nicht an, wenn die Fortführung des Unternehmens überwiegend wahrscheinlich ist. Die zentrale Frage für die Beurteilung der „Überschuldung“ ist daher, ob für das Unternehmen eine positive Fortführungsprognose besteht. Dies erfordert wiederum eine Liquiditätsprognose (und damit eine fundierte Liquiditätsplanung) für die nächsten 12 Monate.Bis 31.12.2023: für die nächsten 4 Monate, § 4 IV Nr. 1 SanInsKG Wenn diese Liquiditätsprognose zeigt, dass das Unternehmen die nächsten 12 Monate (mit überwiegender Wahrscheinlichkeit) überleben wird, liegt keine Überschuldung im Rechtssinne vor.
16Zeigt hingegen die Liquiditätsprognose für die nächsten 12 Monate, dass der Fortbestand des Unternehmens unter Liquiditätsgesichtspunkten gefährdet (zumindest nicht „überwiegend wahrscheinlich“) ist, kommt es anschließend darauf an, ob eine rechnerische Überschuldung zu Liquidationswerten vorliegt.
17Letzteres ist sehr häufig der Fall, denn nur in seltenen Fällen hat ein Unternehmen signifikante stille Reserven, z. B. wenn sich ein Betriebsgrundstück mit einem hohen Wert im Gesellschaftsvermögen befindet, das vor langer Zeit erworben wurde, und deswegen hierfür nur ein geringer Buchwert ausgewiesen ist. Stille Reserven dürfen bei der Überschuldungsprüfung aufgedeckt werden und können im Einzelfall geeignet sein, einen nicht durch Eigenkapital gedeckten Fehlbetrag und / oder eine Abwertung der übrigen Vermögensgegenstände auf Zerschlagungswerte im Falle einer negativen Fortführungsprognose auszugleichen.
18Dreh- und Angelpunkt der Überschuldungsprüfung ist daher in der Regel die Fortführungsprognose. Der Begriff Überschuldung verleitet deshalb zu einem falschen Blickwinkel. Zumeist kommt es auch für die Frage der Überschuldung darauf an, ob das Unternehmen Fortführungsaussichten hat oder nicht, ob also Zahlungsunfähigkeit in den nächsten 12 Monaten droht. Da der Geschäftsleiter im Ernstfall eine positive Fortbestehensprognose beweisen können muss (gerade dann, wenn es eben doch „schief ging“ und sich eine positive „Prognose“ im Nachhinein als fehlerhaft herausgestellt hat), empfiehlt sich bei Krisenanzeichen oder einem nicht durch Eigenkapital gedeckten Fehlbetrag in der Handels- bzw. Steuerbilanz die Erstellung einer Fortführungsprognose durch einen externen Unternehmensberater.
bb) Insolvenzantragstellung
19Liegt ein Insolvenzgrund vor (Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung), muss der Geschäftsleiter unverzüglich Insolvenzantrag stellen. § 15b InsO formuliert indirekt über die Haftungsfolgen ein solches Handlungsgebot. Die eigentliche Pflicht zur Insolvenzantragstellung ergibt sich aus
20Unabhängig von dem strafrechtlichen Handlungsgebot sollten die Vertretungsorgane den gebotenen Insolvenzantrag stellen, wenn sich die Haftung nach § 15b InsO vermeiden möchten.
cc) Zurückhalten von Zahlungen
21Die Vertretungsorgane können ihre Haftung nach § 15b InsO auch dadurch vermeiden, dass sie jegliche Maßnahmen unterlassen, die das Vermögen der Gesellschaft vermindern (bzw. eine spätere Insolvenzmasse schmälern). Dazu müsste aber die Unternehmenstätigkeit gewissermaßen „eingefroren“ werden. Dies ist bei einem laufenden Betrieb nur für einen vorübergehenden, in der Regel sehr kurzen Zeitraum möglich, da sonst die gesamte Geschäftstätigkeit zum Erliegen kommt. Die nach dem früheren Recht zulässige „Notgeschäftsführung“ gibt es nicht mehr.Vgl. Bitter, GmbHR 2022, 57, 58, Rn. 10 Zahlungen im ordnungsgemäßen Geschäftsgang dürfen allerdings innerhalb der Insolvenzantragsfristen (drei Wochen bei Zahlungsunfähigkeit, sechs Wochen bei Überschuldung) noch geleistet werden, solange in diesem Zeitraum entweder Maßnahmen zur nachhaltigen Beseitigung der Insolvenzreife oder zur Vorbereitung eines Insolvenzantrags mit der erforderlichen Sorgfalt getroffen werden. Dies setzt allerdings voraus, dass der Zeitpunkt des Eintritts der Insolvenzreife genau bestimmt werden kann, denn die Insolvenzantragsfristen (drei oder sechs Wochen) sind schnell verstrichen.
(1) Keine Zahlungen
22Ab Eintritt der Insolvenzreife dürfen keine Gläubiger mehr bezahlt werden, insbesondere nicht von Guthabenkonten oder von im Soll befindlichen Kontokorrentkonten, wenn der Kontokorrentkredit aus dem Vermögen der Gesellschaft besichert ist. Zahlungen von einem unbesicherten Soll-Konto dürfen zwar theoretisch noch erbracht werden, können aber eine Pflichtwidrigkeit gegenüber der Bank darstellen. Nicht zulässig ist hingegen die Vereinnahmung von Zahlungen auf ungesicherten Soll-Konten (sofern nicht die Forderungen, aus deren Realisierung die vereinnahmten Zahlungen stammen, zur Sicherheit an die Bank abgetreten sind). Deswegen ist das Vertretungsorgan in einer solchen Situation gehalten, mit den Kunden in Kontakt zu treten und diese zu veranlassen, ihre Zahlungen nicht mehr auf das (unter Umständen gewohnte) im Soll geführte Konto zu bezahlen, sondern auf ein anderes, im Haben befindliches Konto. Sofern ein solches Konto nicht besteht, muss der Geschäftsleiter ein solches Habenkonto eröffnen und bis dahin die Kunden veranlassen, ihre Zahlungen zurückzuhalten.
(2) Keine sonstigen Vermögensminderungen
23Der Geschäftsleiter darf auch sonst nichts unternehmen, wodurch das Vermögen der Gesellschaft – isoliert betrachtet – gemindert wird. Er darf z. B. keine Waren ausliefern, wenn der Kunde diese schon im Voraus bezahlt hat. Nur wenn er durch die Warenlieferung eine Forderung für die Gesellschaft generiert (was der Normallfall sein dürfte), darf die Ware auch nach eingetretener Insolvenzreife ausgeliefert werden.
(3) Keine Notgeschäftsführung
24Anders als zum alten Recht gibt es unter § 15b InsO keine Notgeschäftsführung mehr. Nach dem Ablauf der Insolvenzantragsfristen (drei bzw. sechs Wochen) sind sämtliche Zahlungen gem. § 15b III InsO in der Regel nicht mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar und führen daher zu einer Haftung der Vertretungsorgane. Strenge Ausnahmen sind im Einzelfall denkbar. Hierzu werden als Beispiele Aufwendungen zur Abwendung eines unmittelbar drohenden Schadens genannt, wie etwa die Beheizung von Gebäuden im Winter zur Verhinderung von Frostschäden oder zur Vermeidung eines Wasserschadens oder die Zahlung der Versicherungsprämien gegen Brandschutz.Vgl. Gehrlein, DB 2020, 2393, 2396; Müller, GmbHR 2021, 737, 740, Rn. 8; sogar weitergehend Bork/Kebekus in: Kübler/Prütting/Bork, Stand: 3/21, § 15b, Rn. 52: Zahlungen an existenziell wichtige Lieferanten oder Arbeitnehmer, wenn dies der unaufschiebbaren Masseerhaltung dient; a. A. Bitter, GmbHR 2022, 57, 59, Rn. 13, wonach im Grundsatz keine privilegierte Zahlung mehr möglich is
(4) Haftungsrisiken im Falle einer eingetretenen Insolvenz
25Im Insolvenzverfahren gehört es zu den Standardaufgaben des Insolvenzverwalters, auch mögliche Haftungsansprüche gegen den Geschäftsleiter zu prüfen. Der Insolvenzverwalter wird daher immer überprüfen, wann die insolvente Gesellschaft (schon) insolvenzreif war, unabhängig davon, wann der Insolvenzantrag tatsächlich gestellt wurde. Stellt sich heraus, dass die Gesellschaft schon vor dem Insolvenzantrag zahlungsunfähig oder überschuldet war, trifft den Geschäftsleiter die Haftung für sämtliche seit diesem Zeitpunkt noch geleisteten Zahlungen und Vermögensminderungen gedeckelt auf den sogenannten Gesamtgläubigerschaden. Dabei können relativ kurze Verschleppungszeiträume bereits zu beträchtlichen Haftungssummen führen. In der Regel sind nahezu sämtliche Ausgaben des Unternehmens verbotene Zahlungen i. S. v. § 15b InsO, sofern nicht unmittelbar eine Gegenleistung ins Gesellschaftsvermögen gelangt ist. Sofern für diese u. U. enorme Haftung keine Managementhaftpflichtversicherung (D&O-Versicherung) aufkommt, wird diese Haftung für die Vertretungsorgane nicht selten existenzbedrohlich. Oftmals zieht die Insolvenz einer Gesellschaft allein schon deswegen eine Insolvenz der Vertretungsorgane nach sich.
26Allein aus diesem Grund ist dringend auf eine rechtzeitige Insolvenzantragstellung zu achten. Solange das Unternehmen „gesund“ ist, sollte auch bei kleineren Gesellschaften unbedingt der Abschluss einer D&O-Versicherung in Betracht gezogen werden. Dabei ist darauf zu achten, dass die Versicherungsbedingungen einen etwaigen Anspruch aus § 15b InsO umfassen und keinen Ausschluss für den Fall der Insolvenz vorsehen. Nach der Entscheidung des BGH vom 18.11.2020 (Az.: IV ZR 217/19) zur Vorgängervorschrift des
2. Aus Sicht der Gesellschaft
27Für eine Gesellschaft hat § 15b InsO, jedenfalls zu deren „Lebzeiten“, keine relevante Bedeutung, außer ggf. nach der Abweisung eines Insolvenzantrags mangels Masse. Relevanz hat die Vorschrift letztlich in erster Linie nur für den Insolvenzverwalter. Für den Insolvenzverwalter spielt § 15b InsO dabei sogar eine sehr große Rolle zur Anreicherung der Insolvenzmasse, zumal Insolvenzen in Deutschland im Durchschnitt um zehn bis zwölf Monate verspätet beantragt werden. Die Darlegung des Anspruchs nach § 15b InsO durch den Insolvenzverwalter ist allerdings in der Praxis nicht einfach.
a) Darlegung der Zahlungsunfähigkeit
28Sofern die Zahlungsunfähigkeit exakt anhand einer Liquiditätsbilanz ermittelt werden soll, müssen nämlich für jeden relevanten Zeitpunkt die jeweils fälligen Verbindlichkeiten den vorhandenen liquiden Mitteln gegenübergestellt werden. Da die Buchhaltung bei kleineren Gesellschaften oftmals nicht in der Lage ist, die Fälligkeitsdaten auszuwerten, bedarf es hierzu oftmals einer völlig neuen Aufbereitung der Buchhaltungsdaten.
29Der Insolvenzverwalter kann aber insoweit eine Beweiserleichterung in Anspruch nehmen, wenn aufgrund äußerer Indizien von einer Zahlungseinstellung (
b) Darlegung der Überschuldung
30Wegen der beträchtlichen Bewertungsschwierigkeiten wird der Insolvenzverwalter auch eine Überschuldung nicht ohne Weiteres beweisen können, wenn die Handels- oder Steuerbilanz kein negatives Eigenkapital ausgewiesen hat. Sobald jedoch in der Handels- oder Steuerbilanz ein nicht durch Eigenkapital gedeckter Fehlbetrag bestand, kann der Insolvenzverwalter hieraus ableiten, dass die Gesellschaft auch insolvenzrechtlich überschuldet war. Es obliegt dann dem verklagten Geschäftsleiter zu beweisen, dass die Gesellschaft (z. B. aufgrund stiller Reserven) dennoch nicht überschuldet war, oder eine positive Fortbestehensprognose bestand.
c) Darlegung der verbotenen Auszahlungen
31Auch die Darlegung der verbotenen Auszahlungen erfordert eine gewisse Mühe. Der Insolvenzverwalter muss nämlich sämtliche Zahlungen im Einzelnen darlegen. Dies kann vor allem kompliziert werden, wenn die Kontostände stark geschwankt sind, wenn ein Konto also zeitweise im Haben und zweitweise im Soll geführt wurde (sog. oszillierendes Konto). Davon hängt nämlich ab, ob jeweils die Auszahlungen oder die Einzahlungen haftungsrelevant i.S.v. § 15b InsO sind.
d) Wirtschaftliche Durchsetzbarkeit
32Nicht zuletzt spielen in Anbetracht der erheblichen Haftungsbeträge die Vermögensverhältnisse des Geschäftsleiters eine große Rolle bei der Durchsetzbarkeit des Anspruchs. Sofern keine D&O-Versicherung besteht, wird es sich daher häufig empfehlen, anstatt eines mitunter langjährigen Haftungsprozesses zeitnah einen wirtschaftlich orientierten Vergleich mit dem Geschäftsleiter zu suchen.
3. Aus Sicht der Gesellschafter
33Für die Gesellschafter spielt § 15b InsO keine Rolle. Dadurch, dass der Anspruch gemäß § 15b IV Satz 2 InsO auf den Gesamtgläubigerschaden begrenzt ist, kann der Anspruch auch in theoretisch denkbaren Extremfällen – anders als im früheren Recht – den Gesellschaftern niemals zugutekommen.
34Allerdings begründet § 15b V InsO für Zahlungspflichten gegenüber Gesellschaftern ein Leistungsverweigerungsrecht,BGH, Urteil vom 09.10.2012 – II ZR 298/11 = ZIP 2012, 2391, Rn. 18; ebenso Karsten Schmidt/K. Schmidt/Herchen, InsO, 20. Aufl. (2023), § 15b, Rn. 42; a. A. wohl Altmeppen, GmbHG, 11. Aufl. (2023), Anh. § 60, Rn. 274; neutral mittlerweile: Noack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl. (2022),
4. § 15b InsO aus Sicht Dritter
35§ 15b InsO begründet lediglich eine Innenhaftung des Geschäftsleiters gegenüber der (insolventen) Gesellschaft, die regelmäßig vom Insolvenzverwalter geltend gemacht wird. Dritte können allerdings dann in den „Genuss“ einer Geschäftsleiterhaftung nach § 15b InsO kommen, wenn die Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse abgelehnt wird. Dann können Dritte den Haftungsanspruch nach § 15b InsO gegen das Vertretungsorgan im Wege der Einzelzwangsvollstreckung pfänden,Vgl. Noack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl. (2022),
II. Expertenhinweise
1. Allgemeines
a) Regelungsgehalt
36§ 15b InsO verbietet jegliche Schmälerung der Vermögensmasse (und damit der späteren Insolvenzmasse) einer haftungsbeschränkten Gesellschaft, und enthält somit ein Masseschmälerungsverbot.Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, 20. Aufl. (2020),
37Damit soll ein Verhaltensanreiz für den Geschäftsleiter geschaffen werden, von seinem Insolvenzantragsrecht gem.
b) Zweck
38Der Normzweck besteht in der Pflicht zur Vermögenssicherung und damit zur Minimierung des durch die Hinauszögerung eines Insolvenzverfahrens drohenden Gläubigerschadens,Karsten Schmidt/Herchen, InsO, 20. Aufl. (2023), § 15b, Rn. 2 wobei die Schutzrichtung der Zahlungsverbote nicht die Gleichbehandlung der Gläubiger sein soll (eine etwaige Ungleichbehandlung soll stattdessen durch das Anfechtungsrecht ausgeglichen werden).Karsten Schmidt/Herchen, InsO, 20. Aufl. (2023), § 15b, Rn. 3 Stattdessen geht es um den Schutz der Gesamtheit der (Insolvenz-)Gläubiger und deren Befriedigungsaussichten.Karsten Schmidt/Herchen, InsO, 20. Aufl. (2023), § 15b, Rn. 3; MüHdbGesR/Born, Band 7, 6. Aufl., § 110, Rn. 1 Sichergestellt werden soll also eine größtmögliche Gläubigerbefriedigung.
c) Bedeutung
39Die Bedeutung der Vorschrift in der Praxis ist enorm. Im Durchschnitt sollen Insolvenzverfahren erst mehr als zehn Monate nach Eintritt des Insolvenzgrunds beantragt werden.MüKo-H.F. Müller, GmbHG, 4. Aufl. (2022),
d) Struktur/Natur
40Die Rechtsnatur des Anspruchs war schon vor der Einführung von § 15b InsO umstritten, und sie ist es nunmehr noch viel mehr. Der BGH bezeichnete den Anspruch der Vorgängervorschriften (§ 64 Satz 1 GmbHG, §§ 92 II, 93 III Nr. 6 AktG, §§ 130a I und II, 177a HGB, etc.) als Erstattungsanspruch eigener Art,Seit BGH vom 18.03.1974 – II ZR 2/72, NJW 1974, 1088; vgl. Noack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl. (2022), § 64, Rn. 17 denn es geht dabei um Massesicherung und nicht um einen Schaden der Gesellschaft, weil diese durch die relevante Zahlung von einer Verbindlichkeit frei wird und somit keinen Schaden erleidetVgl. Altmeppen, GmbHG, 11. Aufl. (2023), Anh. § 60, Rn. 156 . Wenngleich es sich dabei jedenfalls um „keinen gewöhnlichen“ SchadensersatzanspruchAltmeppen, GmbHG, 11. Aufl. (2023), Anh. § 60, Rn. 167 handelte, so war in der Literatur doch die Ansicht verbreitet, dass es sich in Wahrheit um einen deliktsähnlichen Schadensersatzanspruch im Interesse aller Gläubiger handelt.Altmeppen, GmbHG, 10. Aufl. (2021), § 64, Rn. 43 ff.; Scholz/Schmidt, GmbHG, 11. Aufl. (2015), § 64, Rn. 10 ff Dieser Streit um die Rechtsnatur des Anspruchs hat durch die Einführung von § 15b InsO neuen Wind unter die Flügel bekommen, weil der Anspruch nunmehr gemäß § 15b IV Satz 2 InsO auf den Schaden der Gläubigerschaft beschränkt ist. Daraus wird vor allem von den Vertretern von Auffassungen, wonach sich schon die Vorgängervorschriften (insbesondere § 64 Satz 1 GmbHG) als Schadensersatzanspruch verstanden, nunmehr geschlussfolgert, der Gesetzgeber habe mit dem durch das SanInsFoG eingeführten § 15b InsO eine Schadensersatzung im Auge gehabt.Altmeppen, GmbHG, 11. Aufl. (2023), Anh. § 60, Rn. 155 Demgegenüber geht selbst Karsten Schmidt als zum früheren Recht stärkster Verfechter eines SchadenersatzmodellsIm Wege der sogenannten Einheitslehre, vgl. Scholz/Schmidt, GmbHG, 11. Aufl. (2015), § 64, Rn. 10 davon aus, dass sich durch die Neuregelung an der „umstritten gebliebenen Methode“ nichts geändert habe.Karsten Schmidt/Herchen, InsO, 20. Aufl. (2023), § 15b, Rn. 29 Die Einschätzungen über die Neuregelung variieren dementsprechend von „juristischer Sensation“Poertzgen, ZinsO 2020, 2509, 2516 über „Schritt in die richtige Richtung“Bitter, GmbHR 2020, 1157 bis zu der Auffassung, dass sich am bisherigen Rechtszustand praktisch nichts geändert habeGehrlein, DB 2020, 2393, 2397 . Letztlich hat der Gesetzgeber den Streit um die Rechtsnatur des Anspruchs nicht entschieden,Noack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl. (2022), § 64, Rn. 17; Müller, GmbHR 2021, 737, 740 sondern beide Ansätze zu einem einheitlichen Ansatz verbunden.Müller, GmbHR 2021, 737, 740 Auch Altmeppen, der die Insolvenzverschleppungshaftung schon immer als Verlustdeckungshaftung verstand, gesteht ein, dass sich die Hoffnung eine Schadensersatzhaftung zerschlagen habe, weil die herrschende Meinung an der alten Dogmatik festhalte.Altmeppen, ZIP 2023, 721
41Für die Praxis bleibt die Einordnung der Haftungsnorm als „Erstattungsanspruch eigener Art“ oder als „Schadensersatzanspruch“ im Ergebnis ohne Belang. Ob es sich nun in Höhe der verbotswidrig geleisteten Zahlungen um eine VermutungSo soll es schon vom Reichsgericht vertreten worden sein, vgl. Müller, GmbHR 2021, 737, 740, Fußnote 36: RG vom 30.11.1938 – II 39/18, RGZ 159, 211, 229 f. oder um eine Beweiserleichterung als „typischer Schadensposten“Karsten Schmidt/Herchen, InsO, 19. Aufl. (2016), § 15a, Rnrn. 51 ff handelt, oder um einen Erstattungsanspruch, der der Höhe nach auf den Gesamtgläubigerschaden begrenzt ist, läuft sich auf dasselbe hinaus. Letztlich sieht sich der Geschäftsleiter nach wie vor einer Haftung für nach Insolvenzreife geleistete Zahlungen ausgesetzt, dabei gelten im Vergleich zum früheren Recht etwas andere „Spielregeln“, und zugunsten des Geschäftsleiters besteht nunmehr eine Obergrenze der Haftung, deren Ermittlung sich in der Rechtsprechung erst finden muss.
2. Definitionen
a) Eintritt der Zahlungsunfähigkeit
aa) Zahlungsunfähigkeit
42Die Zahlungsunfähigkeit ist in
43Ist die liquide Unterdeckung nur vorübergehend oder geringfügig, liegt lediglich eine Zahlungsstockung und noch keine Zahlungsunfähigkeit vor. Nach dem BGH ist von Zahlungsstockung auszugehen, wenn eine innerhalb von drei Wochen nicht zu beseitigende Liquiditätslücke weniger als 10 % beträgt, sofern nicht bereits absehbar ist, dass die Lücke demnächst mehr als 10 % erreichen wird.BGH, Urteil vom 24.05.2005 – IX ZR 123/04, Leitsatz 2 = BGHZ 163, 134 Beträgt die Liquiditätslücke hingegen 10 % oder mehr und kann diese nicht innerhalb von drei Wochen beseitigt werden, ist regelmäßig von Zahlungsunfähigkeit auszugehen, sofern nicht ausnahmsweise mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass die Liquiditätslücke demnächst vollständig oder fast vollständig beseitigt werden wird und den Gläubigern ein Zuwarten nach den besonderen Umständen des Einzelfalls zuzumuten ist.BGH, Urteil vom 24.05.2005 – IX ZR 123/04, Leitsatz 3 = BGHZ 163, 134 Aus dieser, vom BGH wiederholt geäußerten Definition, ergeben sich die nachfolgenden Schritte zur Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit.
(1) Stichtagsbezogener Liquiditätsstatus
44In einem ersten Schritt sind sämtliche an einem bestimmten Stichtag fälligen Verbindlichkeiten (Passiva I) zu ermitteln und den an diesem Stichtag vorhandenen liquiden Mitteln (Aktiva I) gegenüberzustellen. Sofern die Aktiva I die Passiva I übersteigen oder zumindest decken, ist die Gesellschaft zahlungsfähig. Bleiben die Aktiva I hinter den Passiva I um weniger als 10 % zurück, ist die Gesellschaft immer noch zahlungsfähig, wenn nicht bereits absehbar ist, dass die Deckungslücke demnächst mehr als 10 % erreichen wird.BGH, Urteil vom 12.10.2006 – IX ZR 228/03, Rn. 27 = ZIP 2006, 2222, 2224 Eine Deckungslücke von weniger als 10 % soll nach Ansicht des IDW keine bloße Zahlungsstockung mehr sein, wenn sie länger als drei bis sechs Monate andauert.IDW S 11 (2021), Ziff. 4.1.1., Rn. 17 am Ende; a. A. Baumert, NZI 2015, 589, 592 Der BGH trifft hierzu keine eindeutige Aussage, spricht aber davon, dass ein Unternehmen mit einer dauerhaften, wenngleich geringfügigen Liquiditätslücke, nicht erhaltungswürdig erscheint.BGH, Urteil vom 24.05.2005 – IX ZR 123/04, Rn. 18 = BGHZ 163, 134
(2) Zeitraumbezogener Liquiditätsstatus
45Beträgt die Liquiditätslücke 10 % oder mehr, so sind die innerhalb von drei Wochen zufließenden (oder gegebenenfalls auch flüssig zu machenden) Mittel (Aktiva II) und die innerhalb der nächsten drei Wochen neu fällig werdenden Verbindlichkeiten (Passiva II) in den Liquiditätsstatus mit einzubeziehen.BGH, Urteil vom 19.12.2017 – II ZR 88/16, Rn. 34 = NZI 2018, 204, 206 Damit ergibt sich folgende Berechnungsmethode:
Aktiva I + Aktiva II
_________________ = Deckungsgrad > 90 %
Passiva I + Passiva II
(3) Weitere Entwicklung
46Auch bei einer zeitraumbezogenen Liquiditätslücke von weniger als 10 % darf diese nicht demnächst (absehbar) mehr als 10 % erreichen. Sofern eine Liquiditätslücke von mehr als 10 % bereits absehbar ist, führt dies bereits heute zur Zahlungsunfähigkeit. Ferner wird zum Teil Zahlungsunfähigkeit auch bei einer Liquiditätslücke von weniger als 10 % angenommen, wenn diese nicht innerhalb eines überschaubaren Zeitraums geschlossen werden kann, wobei hierfür drei bis sechs Monate genannt werden.IDW S 11 (2021), Ziff. 4.1.1., Rn. 17 a. E; Uhlenbruck/Mock, InsO, 15. Aufl. (2019),
47Selbst bei einer Deckungslücke von 10 % oder mehr kann ausnahmsweise von Zahlungsfähigkeit ausgegangen werden, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass die Liquiditätslücke demnächst vollständig oder fast vollständig geschlossen wird und ein Zuwarten den Gläubigern nach den besonderen Umständen des Einzelfalls zuzumuten ist.BGH, Urteil vom 24.05.2005 – IX ZR 123/04, Leitsatz 3, ZIP 2005, 1426; BGH, Urteil vom 12.10.2006 – X ZR 228/03, Rn. 27 = ZIP 2006, 2222 f
Auch hierfür soll ein Zeitraum von maximal drei, in besonderen Ausnahmefällen längstens sechs Monaten in Betracht kommen.IDW S 11 (2021), Ziff. 4.1.1., Rn. 16; Uhlenbruck/Mock, InsO, 15. Aufl. (2019),
48Vor dem Hintergrund dieser Regelungen hat sich in der Praxis die „Dreizehn-Wochen-Planung“ eingebürgert. Nichtsdestotrotz wird es nur wenige Konstellationen geben, in denen ein Geschäftsleiter wirklich auf die Schließung einer mehr als zehnprozentigen Liquiditätslücke innerhalb des Dreizehn-Wochen-Zeitraums vertrauen kann, wofür er letztlich im Hinblick auf die Formulierung des BGH („mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“) das volle Erfolgsrisiko trägt. Sofern er auf eine derartige Entwicklung ausnahmsweise vertrauen darf, muss sich die Liquiditätslücke außerdem vollständig oder fast vollständig schließen, wofür allenfalls noch eine Unterdeckung von weniger als 5 % toleriert wird.Fischer, FS-Ganter, 2010, 153, 163 Eine Reduzierung der Liquiditätslücke auf lediglich unter 10 % ist dabei nicht ausreichend. Nach einer solchen Ausnahmesituation (Liquiditätslücke von 10 % oder mehr, länger als 3 Wochen, aber kürzer als 3 - 6 Monate) ist also die sonst zulässige „kleine Bugwelle“ von unter 10 % nicht mehr erlaubt.vgl. Baumert NZI 2015, 589, 592
bb) Zahlungseinstellung
49Hat die Gesellschaft ihre Zahlungen bereits eingestellt, ist gemäß
50Treten derartige Umstände nach außen in Erscheinung, erleichtert dies dem klagenden Insolvenzverwalter letztendlich seine Darlegung der Zahlungsunfähigkeit, weil dann aus der Zahlungseinstellung auf die Zahlungsunfähigkeit geschlossen werden kann. Es obliegt dann dem beklagten Geschäftsleiter, gegebenenfalls mit Hilfe einer Liquiditätsbilanz die Zahlungsfähigkeit der Gesellschaft im fraglichen Zeitpunkt zu beweisen.
cc) Eintritt
51Die Zahlungsunfähigkeit tritt stichtagsbezogen ein an dem Tag, an dem eine liquide Unterdeckung besteht und nicht eine bloße Zahlungsstockung vorliegt. Der Geschäftsleiter muss daher durch geeignete Kontrollinstrumente die Liquidität der Gesellschaft laufend und in dem Krisenstadium angemessenen Intervallen überwachen, weil bereits mit Eintritt der Zahlungsunfähigkeit Zahlungen nur noch im ordnungsgemäßen Geschäftsgang zulässig sind.Noack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl. (2022),
b) Feststellung der Überschuldung
52Überschuldung ist in
53Die Überschuldung im insolvenzrechtlichen Sinne ist unabhängig von einer Überschuldung in der Handels- oder Steuerbilanz.Uhlenbruck/Mock, InsO, 15. Aufl. (2019),
- Die Vermögensgegenstände und Schulden sind in der Überschuldungsbilanz zu Liquidationswerten anzusetzen;Noack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl. (2022), Vor § 64, Rn. 53, 54 eine Bewertung zu Fortführungswerten (Going-Concern) ist redundant.
- Ist die Fortführungsprognose positiv, kommt es auf eine rechnerische Überschuldung gar nicht mehr an; in diesem Fall ist nicht von einer Überschuldung im Rechtssinne auszugehen.Uhlenbruck/Mock, InsO, 15. Aufl. (2019),
§ 19 Rn. 42; Noack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl. (2022), Vor § 64 Rn. 57
54Damit gibt es nur zwei relevante Kriterien für die Überschuldungsprüfung, von denen mindestens eins positiv sein muss: Die Fortführungsprognose oder die Überschuldungsbilanz zu Liquidationswerten.
55Welches der beiden Kriterien man zuerst prüft, ist Geschmackssache. In der Regel wird der konkrete Fall nahelegen, welches Merkmal einfacher zu ermitteln ist.
56Ob diesen beiden Merkmalen ein – aus der Handelsbilanz in der Regel leicht abzuleitender – Überschuldungsstatus zu Fortführungswerten quasi als Orientierungshilfe vorgeschaltet wird, ist ebenfalls Geschmackssache.
57In einer praxisorientierten Darstellung kann man sich daher auf die beiden genannten Merkmale der Fortbestehensprognose und der rechnerischen Überschuldung zu Liquidationswerten beschränken.
aa) Fortbestehensprognose
58Bei der Fortbestehensprognose kommt es darauf an, ob mittelfristig von einer Zahlungsfähigkeit des Unternehmens ausgegangen werden kann.Uhlenbruck/Mock, InsO, 15. Aufl. (2019),
(1) Prognosezeitraum
59Der Prognosezeitraum beträgt gemäß § 19 II 1 InsO 12 Monate,bis 31.12.2023: 4 Monate gemäß
(2) Anforderungen
60Fraglich ist, welche Anforderungen an eine solche Fortführungsprognose zu stellen sind. Aus dem Gesetzeswortlaut ist nämlich nicht klar zu entnehmen, ob hierzu ein – gegebenenfalls extern zu erstellendes – Unternehmenskonzept notwendig ist. Der BGH hat diese Voraussetzung (aussagekräftiges Unternehmenskonzept) allerdings aus dem früheren
61Nicht verlangt wird dabei ein Gutachten nach dem IDW S 6 Standard.BGH, Urteil vom 14.06.2018 – IX ZR 22/15, Rn. 10
Es gibt bislang keinen eigenen IDW Standard für die Erstellung von Fortführungsprognosen mit Ausnahme des entsprechenden Abschnitts im Rahmen des IDW S 11.IDW Standard: Beurteilung des Vorliegens von Insolvenzeröffnungsgründen (IDW S 11 (2021)), Ziff. 5.3
Demnach kommt es ausgehend von der Stichtagsliquidität im Prüfungszeitpunkt auf die gesamte finanzielle Entwicklung des Unternehmens für den Planungszeitraum an. Dabei ist auf Grundlage des Unternehmenskonzepts und des Finanzplans ein qualitatives, wertendes Gesamturteil über die Lebensfähigkeit des Unternehmens in der vorhersehbaren Zukunft zu treffen. Dabei soll vor dem Hintergrund der getroffenen Annahmen und der daraus abgeleiteten Auswirkungen auf die zukünftige Ertrags- und Liquiditätslage eine Aussage ermöglicht werden, ob ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung stehen, die im Planungshorizont jeweils fälligen Verbindlichkeiten bedienen zu können. Demgemäß besteht die Fortführungsprognose in der Regel aus drei Stufen: Einem aussagekräftigen und plausiblen Unternehmenskonzept, einem Finanzplan und der aus dem Ergebnis des Finanzplans abgeleiteten Fortbestehensprognose.Uhlenbruck/Mock, InsO, 15. Aufl. (2019),
62Im Grundsatz muss es dem Geschäftsleiter – gegebenenfalls unter Zurhilfenahme unternehmensinterner Ressourcen, wie dem Controlling – möglich sein, ein entsprechendes Konzept selbst zu erstellen. Er trägt dann allerdings das Risiko, dass ein selbst erstelltes Konzept diesen Anforderungen im Nachhinein nicht genügt.
bb) Überschuldungsbilanz zu Liquidationswerten
63Sofern die Fortführungsprognose negativ ist (oder eine solche gar nicht erstellt wird), kommt es auf den Überschuldungsstatus zu Liquidations- bzw. Zerschlagungswerten an.Noack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl. (2022), Vor
(1) Wertansatz der Aktiva
64Auf der Aktivseite der Überschuldungsbilanz sind alle Vermögenswerte anzusetzen, die für den Fall der Insolvenzeröffnung als Massebestandteile verwertbar wären.BGH, Urteil vom 13.07.1992 – II ZR 269/91, Rn. 15 = NJW 1992, 2891, 2893 Zu aktivieren sind daher sämtliche zum Anlage- und Umlaufvermögen zählenden Sachen und Rechte.BGH, Urteil vom 27.10.1982 – VIII ZR 187/81, Rn. 15 = NJW 1983, 676, 677 Dies gilt auch dann, wenn an diesen ein Absonderungsrecht besteht,Uhlenbruck/Mock, InsO, 15. Aufl. (2019), § 15, Rn. 76; HK/Laroche, InsO, 11. Aufl. (2023), § 19, Rn. 18; Karsten Schmid/K. Schmidt/Herchen, InsO, 20. Aufl. (2023), § 19, Rn. 23 denn auch die mit dem Aussonderungsrecht besicherte Verbindlichkeit wird im Überschuldungsstatus als Passivposten berücksichtigt.anders unter Umständen im Falle der Besicherung von Drittforderungen, vgl. Uhlenbruck/Mock, InsO, 15. Aufl. (2019), § 19, Rn. 77 Nicht in Ansatz zu bringen sind allerdings Gegenstände, an denen ein Absonderungsrecht besteht,Uhlenbruck/Mock, InsO, 15. Aufl. (2019), § 19, Rn. 75; Karsten Schmid/K. Schmidt/Herchen, InsO, 20. Aufl. (2023), § 19, Rn. 23 wobei bei Gegenständen, die unter Eigentumsvorbehalt erworben wurden, zumindest das Anwartschaftsrecht aktiviert werden dürfen soll,Uhlenbruck/Mock, InsO, 15. Aufl. (2019), § 19, Rn. 75 was wirtschaftlich dem Wert der Sache weitgehend entsprechen dürfte.
(a) Sachanlagen
65Sachanlagen sind mit ihrem Verkehrswert anzusetzen.Uhlenbruck/Mock, InsO, 15. Aufl. (2019),
(b) Finanzanlagen und Beteiligungen
66Finanzanlagen und Beteiligungen an anderen Gesellschaften werden grundsätzlich mit ihrem Verkehrs- oder Kurswert in der Überschuldungsbilanz aktiviert.Uhlenbruck/Mock, InsO, 15. Aufl. (2019),
(c) Immaterielle Vermögenswerte und Geschäfts- oder Firmenwert
67Immaterielle Vermögenswerte, wie z. B. Patente, Marken, Lizenzen, Gebrauchsmuster und Warenzeichen dürfen in der Überschuldungsbilanz aktiviert werden, soweit sie im eröffneten Insolvenzverfahren veräußerbar sind.IDW S 11 (2021), Ziff. 5.4.3., Rn. 80; Uhlenbruck/Mock, InsO, 15. Aufl. (2019),
68Ein Geschäfts- oder Firmenwert kann in der Überschuldungsbilanz grundsätzlich nicht aktiviert werden, da ein Geschäfts- oder Firmenwert im Falle einer Liquidation in der Regel nicht verwertbar ist.Uhlenbruck/Mock, InsO, 15. Aufl. (2019),
(d) Gegenstände mit Aus- oder Absonderungsrechten
69Soweit an Gegenständen des Anlage- oder Umlaufvermögens Aussonderungsrechte bestehen, ein Dritter also aufgrund eines dinglichen oder persönlichen Rechts geltend machen kann, dass ein bestimmter Gegenstand nicht zur Insolvenzmasse gehört (
70Gegenstände, die aufgrund einer Besicherung von Gesellschaftsforderungen der Absonderung unterliegen (§
(e) Vorräte, unfertige Erzeugnisse, Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe
71Vorratsbestände sowie Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe sind zu aktivieren, soweit eine Verwertung im Rahmen einer Liquidation denkbar ist.Hamburger Kommentar/Schröder, InsO, 9. Aufl. (2022),
(f) Forderungen
72Forderungen sind in der Überschuldungsbilanz anzusetzen, wenn sie durchsetzbar sind und einen realisierbaren Vermögenswert darstellen.BGH, Urteil vom 18.10.2010 – II ZR 151/09, Rn. 18 – ZInsO 2010, 2396, Rn. 18
Zum Teil wird vorgeschlagen, bei Forderungen aus Lieferungen und Leistungen einen Abschlag zwischen 20 und 50 Prozent vorzunehmen, weil die Zahlungsmoral der Kunden bei Bekanntwerden der Insolvenzreife des Schuldners sinken soll.So Uhlenbruck/Mock, InsO, 15. Aufl. (2019),
(g) Ansprüche gegen Gesellschafter und Geschäftsleiter
73Bestehen Ansprüche gegen einen oder mehrere Gesellschafter auf Einzahlung noch ausstehender Einlagen, sind solche Forderungen – sofern sie als werthaltig anzusehen sind – in die Überschuldungsbilanz aufzunehmen.IDW S 11 (2021), Ziff. 5.4.3., Rn. 79; BGH, Urteil vom 17.07.2006 – II ZR 178/05, Rn. 7 = DStR 2007, 1360 Gleiches gilt für eine noch nicht geleistete Zahlung auf eine wirksam beschlossene Kapitalerhöhung.IDW S 11 (2021), Ziff. 5.4.3., Rn. 79
74Ebenfalls sind Ansprüche, die unabhängig von der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens entstehen können, in der Überschuldungsbilanz zu aktivieren. Hierzu gehören beispielsweise Haftungsansprüche gegen Mitglieder des Geschäftsleitungs- oder Aufsichtsorgans (insbesondere Ansprüche aus
75Hingegen sind Ansprüche, die erst mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens zugunsten der Insolvenzmasse entstehen (und somit erst vom Insolvenzverwalter geltend gemacht werden können), nicht in die Überschuldungsbilanz aufzunehmen. Das sind insbesondere Ansprüche aus InsolvenzanfechtungUhlenbruck/Mock, InsO, 15. Aufl. (2019), § 19, Rn. 128
sowie Ansprüche wegen Insolvenzverschleppungshaftung, und zwar sowohl Schadenersatzansprüche nach § 15a InsO i. V. m. § 823 II BGBUhlenbruck/Mock, InsO, 15. Aufl. (2019), § 19, Rn. 99
als auch Erstattungsansprüche nach § 15b InsO.Karsten Schmid/K. Schmidt/Herchen, InsO, 20. Aufl. (2023), § 19, Rn. 33; a. A. Uhlenbruck/Mock, InsO, 15. Aufl. (2019), § 19, Rn. 120
Demgegenüber wird teilweise angenommen, die Ansprüche wegen Masseschmälerungshaftung (nach altem Recht § 64 GmbHG, §§ 92 II i. V. m. 93 III Nr. 6 AktG, §§ 130 a II HGB) müssten im Überschuldungsstatus aktiviert werden,Uhlenbruck/Mock, InsO, 15. Aufl. (2019),
76Valide Ansprüche gegen einen Gesellschafter oder einen Geschäftsleiter (z. B. eine Darlehensforderung) sind in der Überschuldungsbilanz hingegen berücksichtigungsfähig und grundsätzlich mit dem Nennwert anzusetzen.Uhlenbruck/Mock, InsO, 15. Aufl. (2019),
(h) Patronatserklärung
77Aufgrund der verschiedenen Arten von Patronatserklärungen ist bei der Frage der Aktivierbarkeit (in der Überschuldungsbilanz des Schuldners) zu differenzieren:
78Aktivierungsfähig sind nur sogenannte „harte“ und „interne“ Patronatserklärungen.IDW S 11 (2021), Ziff. 5.4.3., Rn. 82
Eine Patronatserklärung ist „hart“, wenn damit ein Anspruch gegen den Patron verbindlich begründet wird. Zudem muss die Patronatserklärung intern, d. h. gegenüber dem Schuldner abgegeben werden, und gegenüber allen Gläubigern wirken.Uhlenbruck/Mock, InsO, 15. Aufl. (2019),
79Wird eine harte Patronatserklärung intern gegenüber dem Schuldner abgegeben, d. h. erwirbt der Schuldner einen Anspruch gegen den Patron, kann der Schuldner einen solchen Anspruch aus der harten, internen Patronatserklärung in seiner Überschuldungsbilanz aktivieren.BGH, Urteil vom 19.05.2011 – IX ZR 9/10, Rn. 20 f. = NZI 2011, 536, 537 Damit nicht gleichzeitig eine Passivposition in gleicher Höhe für den Rückforderungsanspruch des Patrons gebildet werden muss, muss hierfür ein Nachrang erklärt oder darauf verzichtet werden.Maier-Reimer/Etzbach, NJW 2011, 1110, 1116
80Der sich aus der Patronatserklärung ergebende Anspruch gegen den Patron muss zudem voll werthaltig sein, was nur dann der Fall ist, wenn der Patron tatsächlich in der Lage ist, Ausgleich für alle ungedeckten Verbindlichkeiten des Schuldners zu leisten.Uhlenbruck/Mock, InsO, 15. Aufl. (2019),
81Eine harte Patronatserklärung, die der Patron zu Gunsten einzelner oder aller Gläubiger des Schuldners abgibt (sogenannte „externe“ Patronatserklärung), ist in der Überschuldungsbilanz des Schuldners hingegen nicht aktivierungsfähig, weil der Schuldner in solchen Fällen keinen eigenen (aktivierungsfähigen) Anspruch gegen den Patron erwirbt.BGH, Urteil vom 19.05.2011 – IX ZR 9/10, Rn. 20 f. = NZI 2011, 536, 538; OLG Celle, Urteil vom 18.06.2008 – 9 U 14/08 = NZG 2009, 308, 309; Maier-Reimer/Etzbach, NJW 2011, 1110, 1117
(i) Aktive Rechnungsabgrenzungsposten
82Aktive Rechnungsabgrenzungsposten (z. B. im Voraus gezahlte Mieten oder Versicherungsprämien) dürfen in die Überschuldungsbilanz aufgenommen werden, wenn eine vorzeitige Vertragsauflösung möglich ist und ein Rückzahlungsanspruch besteht.IDW S 11 (2021), Ziff. 5.4.3., Rn. 83
(2) Wertansatz der Passiva
83Auf der Passivseite der Überschuldungsbilanz sind alle bestehenden oder wahrscheinlich entstehenden Verbindlichkeiten mit ihrem Nennwert anzusetzen.Hamburger Kommentar/Schröder, InsO, 9. Aufl. (2022),
(a) Verbindlichkeiten
84In der Überschuldungsbilanz sind sämtliche gegenwärtig bestehenden Verbindlichkeiten zu berücksichtigen, die im Falle der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens Insolvenzforderungen begründen können.BGH, Urteil vom 27.10.1982 – VIII ZR 187/81, Rn. 15 = BB 1982, 2161
Hierzu gehören grundsätzlich alle Arten von Verbindlichkeiten wie etwa diejenigen aus Warenlieferungen und Leistungen, Bankverbindlichkeiten, Wechselverpflichtungen, erhaltene Anzahlungen und Steuerschulden.Uhlenbruck/Mock, InsO, 15. Aufl. (2019),
85Noch nicht fällige oder gestundete Verbindlichkeiten sind ebenfalls anzusetzen.Uhlenbruck/Mock, InsO, 15. Aufl. (2019),
(b) Streitige Verbindlichkeiten
86Bei streitigen Verbindlichkeiten ist je nach Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme eine entsprechende Rückstellung zu bilden.OLG Naumburg, Urteil vom 24.11.2006 – 10 U 50/06 = DStR 2007, 1220; Hamburger Kommentar/Schröder, InsO, 7. Aufl. (2019),
87Für die Praxis bleiben erhebliche Bewertungsunsicherheiten, wenn ein Unternehmen einem (oder mehreren) Passivprozessen in beträchtlicher Höhe ausgesetzt ist. Dann sind sehr gründliche Einschätzungen der prozessführenden Anwälte einzuholen und auf deren Grundlage ein Ansatz in Höhe der erwarteten Inanspruchnahme zu bilden.
(c) Besicherte Verbindlichkeiten
88Auch wenn für eine Verbindlichkeit eine Sicherheit durch einen Dritten gewährt wurde, ist eine solche Verbindlichkeit zu passivieren. Die Sicherheit selbst kann hingegen nicht aktiviert werden, da der Sicherungsgeber regelmäßig einen Rückgriffsanspruch gegen den Schuldner hat. Selbst wenn der Sicherungsgeber auf seinen Rückgriffsanspruch verzichtet oder diesbezüglich einen Rangrücktritt erklärt, soll die Passivierungspflicht nicht entfallen, weil auch in diesen Konstellationen für den Schuldner weiterhin die Gefahr einer unmittelbaren Inanspruchnahme besteht.Uhlenbruck/Mock, InsO, 15. Aufl. (2019),
(d) Nachrangige Verbindlichkeiten
89Nachrangige Verbindlichkeiten sind in der Überschuldungsbilanz zu passivieren, soweit sich der Nachrang lediglich auf das Insolvenzverfahren bezieht. Wird der Nachrang allerdings auch für außerhalb eines Insolvenzverfahrens vereinbart, ist eine solche nachrangige Verbindlichkeit nicht in Ansatz zu bringen.Uhlenbruck/Mock, InsO, 15. Aufl. (2019),
(e) Rangrücktritt
90Gemäß
91Forderungen auf Rückzahlung von Gesellschafterdarlehen, für die kein Rangrücktritt vereinbart ist, sind hingegen in der Überschuldungsbilanz zu berücksichtigen, auch wenn es sich gemäß
92Nur soweit der Gesellschafter ausdrücklich einen Rangrücktritt in den Rang des
93Rangrücktritte können nicht nur von Gesellschaftern erklärt werden, sondern auch von einem Dritten, wodurch der Dritte mit seiner Forderung in den Rang des
(f) Rückstellungen
94Rückstellungen werden in der Überschuldungsbilanz nur teilweise berücksichtigt:
95Rückstellungen für streitige Verbindlichkeiten (streitig kann das Bestehen der Verbindlichkeit sein, aber auch deren Höhe) sind in der Überschuldungsbilanz zu passivieren, soweit mit einer Inanspruchnahme zu rechnen ist.S. o. lit (b); IDW S 11 (2021), Ziff. 5.4.3., Rn. 86 Anstelle des vorsichtigen Schätzwerts nach HGB tritt in der Überschuldungsbilanz der erwartete Wert.IDW S 11 (2021), Ziff. 5.4.3., Rn. 86
96Da bei negativer Fortführungsprognose eine Fortführung des Geschäftsbetriebs unwahrscheinlich ist, sind in der Überschuldungsbilanz auch Rückstellungen für die Stilllegung und Abwicklung des Unternehmens zu bilden.So KG Berlin, Urteil vom 01.11.2005 – 7 U 49/05, Rn. 35 = ZInsO 2006, 437, 439; Uhlenbruck/Mock, InsO, 15. Aufl. (2019),
97Anders als in der Handelsbilanz sind Rückstellungen für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften (
(g) Pensionsverpflichtungen
98Pensionsverpflichtungen, d. h. laufende Pensionsverpflichtungen und unverfallbare Pensionsanwartschaften, sind mit ihrem versicherungsmathematischen BarwertHamburger Kommentar/Schröder, InsO, 9. Aufl. (2022),
(h) Ansprüche von Gesellschaftern
99Gewinnansprüche der Gesellschafter sind zu passivieren, soweit es bereits einen entsprechenden Gewinnverwendungsbeschluss gibt.Uhlenbruck/Mock, InsO, 15. Aufl. (2019),
100Abfindungsansprüche von Gesellschaftern sind ebenfalls zu passivieren, soweit diese bereits entstanden sind.OLG Hamburg, Urteil vom 20.06.2013 – 11 U 107/11 = ZInsO 2013, 1517, 1519
(i) Rückgewähransprüche von öffentlichen Zuwendungen
101Erhaltene Zuwendungen aus Beihilfen oder anderen öffentlichen Zuwendungen sind passivierungspflichtig, soweit eine Rückzahlungsverpflichtung für den Fall der Schließung des Unternehmens besteht.IDW S 11 (2021), Ziff. 5.4.3., Rn. 85
(j) Passive Rechnungsabgrenzungsposten
102Passive Rechnungsabgrenzungsposten sind – entsprechend den aktiven Rechnungsabgrenzungsposten – zu berücksichtigen, soweit sie Vorleistungscharakter haben.Uhlenbruck/Mock, InsO, 15. Aufl. (2019),
cc) Überprüfung der Überschuldung
103Die höchstrichterliche Rechtsprechung erwartet von jedem organschaftlichen Vertreter, dass er sich über die wirtschaftliche Lage des Unternehmens stets vergewissert.BGH, Urteil vom 14.05.2007 – II ZR 48/06, Rn. 16 = NJW 2007, 2118, 2120 Hierzu gehört insbesondere auch die Prüfung der Überschuldung und Zahlungsfähigkeit.BGH, Urteil vom 14.05.2007 – II ZR 48/06, Rn. 16 = NJW 2007, 2118, 2120
104Die Prüfung, ob ein Insolvenzgrund vorliegt, ist eine allgemeine Pflicht der Geschäftsleiter.Uhlenbruck/Mock, InsO, 15. Aufl. (2019),
c) Leistung von Zahlungen
aa) Zahlungen
105Der Begriff der „Zahlung“ ist weit auszulegen. Im Lichte des Normzwecks (Massesicherungspflicht) wird hierunter jede Minderung des Aktivvermögens verstanden.Noack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl. (2022),
106Ob nach dem Sicherungszessionsvertrag eine Verpflichtung des Schuldners besteht, die sicherungszedierten Forderungen nur auf das (debitorische) Konto der Bank einzuziehen, zu deren Gunsten die Sicherungszession vereinbart ist, scheint dabei nach der BGH-Rechtsprechung nicht entscheidend zu sein.BGH, Urteil vom 23.06.2015 – II ZR 366/13, Rn. 18
107Die vorstehenden Ausführungen zu Zahlungseingängen beziehungsweise -ausgängen auf/von ein/einem debitorischen Konto gelten entsprechend für ein im Haben geführtes (kreditorisches) Konto, wenn dieses bzw. die darauf bestehenden Guthabensalden an die Bank oder einen Dritten zur Sicherheit verpfändet sind und damit Forderungen (der Bank oder Dritte) gesichert werden, die den jeweiligen Guthabensaldo des kreditorischen Kontos übersteigen.vgl. Habersack/Casper/Löbbe, GmbHG, 3. Aufl. (2021), §§ 63, 64 Rn. 133-135 Dies dürfte auch dann gelten, wenn bei der kontoführenden Bank anderweitige Verbindlichkeiten bestehen, für die der jeweilige Guthabensaldo des kreditorisch geführten Kontos aufgrund des AGB-Pfandrechts (Nr. 14 AGB-Banken) haftet.Scholz/Bitter, GmbHG, 12. Aufl. (2021), § 64, Rn. 134 Inwieweit die sich aufgrund der bisherigen BGH-Rechtsprechung ergebenden Konsequenzen bei der unterschiedlichen Behandlung von Ein-/Auszahlungen vom kreditorischen/debitorischen Konto in Abhängigkeit von den jeweiligen Sicherheitenverträgen auch unter dem neuen Recht fortgelten, bleibt abzuwarten. Soweit der BGH zur Begründung seiner Rechtsprechung auf die Masseneutralität abgestellt hat, gelten die BGH-Grundsätze sicherlich fort. Soweit er jedoch auf das „ordentliche Geschäftsgebaren“ abgestellt hat (wie bei der Umleitung von Zahlungen auf ein anderes Konto), dürften die Besonderheiten der BGH-Rechtsprechung nach Ablauf der Insolvenzantragsfrist nicht mehr gelten, weil Zahlungen danach in der Regel nicht mehr mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar sind (§ 15b III InsO). Ist also die Insolvenzantragsfrist bereits abgelaufen, wird man wohl vom Geschäftsleiter doch wieder verlangen müssen, Forderungen nur noch auf ein (gegebenenfalls hierfür eigens eingerichtetes) kreditorisches Konto bei einer anderen Bank einzuziehen, selbst wenn die einzuziehende Forderung an die Bank abgetreten war und sich der Geschäftsleiter damit gegebenenfalls gegenüber der Bank pflichtwidrig verhält. Dieses (schon früher einmal bestehende)Vor der Rechtsprechung zur Einziehung sicherungszedierter Forderungen, BGH vom 23.06.2015 – II ZR 366/13: BGH vom 08.12.2015 – II ZR 68/14; BGH vom 03.05.2016 – II ZR 318/15 Pflichtendilemma dürfte wieder aufleben.
108Einzahlungen auf ein debitorisches Konto, das aus dem Gesellschaftsvermögen ausreichend besichert ist, sind ebenfalls unschädlich. Soweit der Wert der Sicherheiten reicht, liegt in der Einzahlung auf ein solches Konto keine Masseschmälerung, weil die Sicherheit in derselben Höhe zu Gunsten der Gläubigermasse frei wird.Scholz/Bitter, GmbHG, 12. Aufl. (2021), § 64, Rn. 128 Umgekehrt können deshalb bei besicherten debitorischen Konten wiederum die Auszahlungen eine Haftung des Geschäftsleiters auslösen,Scholz/Bitter, GmbHG, 12. Aufl. (2021), § 64, Rn. 127 weil damit die Sicherheit (und damit ein Vermögensgegenstand der Aktivmasse) weiter belastet wird. Dies setzt allerdings voraus, dass der Sicherheitenwert zur Zeit der Auszahlung durch den an dem jeweiligen Tag bestehenden negativen Kontokorrentsaldo noch nicht voll ausgeschöpft war.
bb) Entfallen der Ersatzpflicht bei Ausgleich durch Gegenleistung
109Erlaubt sind hingegen solche Zahlungen, die effektiv nicht zu einer Masseschmälerung führen. Wird eine Masseschmälerung in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Zahlung durch eine Gegenleistung ausgeglichen, entfällt die Ersatzpflicht des Organs.BGH, Urteil vom 04.07.2017 – II ZR 319/15 = DStR 2017, 2060 Nicht erforderlich ist, dass die Gegenleistung bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens noch im Gesellschaftsvermögen vorhanden ist.BGH, Urteil vom 18.11.2014 – II ZR 231/13 = DStR 2015, 180 Allerdings ist ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Masseschmälerung (Zahlung) und der ausgleichenden Massemehrung (Gegenleistung) erfoderlich. Es soll gerade nicht jeder beliebige weitere Massezufluss als Ausgleich einer Masseschmälerung zu berücksichtigen sein.BGH, Urteil vom 04.07.2017 – II ZR 319/15, Rn. 11 = DStR 2017, 2060 Vielmehr soll ein unmittelbarer wirtschaftlicher, nicht notwendig zeitlicher Zusammenhang mit der Zahlung erforderlich sein, damit der Massezufluss der (an und für sich erstattungspflichtigen) Masseschmälerung zugeordnet werden kann.BGH, Urteil vom 04.07.2017 – II ZR 319/15, Rn. 11 = DStR 2017, 2060 Ein solcher Ausgleich in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang kommt insbesondere bei Zahlungen im Austausch für eine vollwertige Gegenleistung, sprich Zug-um-Zug-Geschäfte in Betracht.BGH, Urteil vom 04.07.2017 – II ZR 319/15, Rn. 11 = DStR 2017, 2060 Dies gilt jedenfalls dann, wenn zunächst die Zahlung geleistet wird und im Anschluss die Gegenleistung in das Vermögen der Gesellschaft gelangt. Die kompensatorische Wirkung der Gegenleistung soll allerdings dann nicht eintreten, wenn zunächst die Gegenleistung (zum Beispiel durch eine Warenlieferung an den Schuldner) erbracht wird und im Anschluss erst die Zahlung durch den Schuldner erfolgt. OLG München, Urteil vom 22.06.2017 – 23 U 3769/16, Rn. 52 = NZG 2017, 1437, 1438 Begründet wird diese Rechtsprechung damit, dass es, wenn die ausgleichende Gegenleistung bereits in das Vermögen des späteren Insolvenzschuldners gelangt ist, bei der nachfolgenden Zahlung zu einer Verkürzung der Aktivmasse kommt, weil sich das Vermögen bereits um die Gegenleistung erhöht hat.OLG München, Urteil vom 22.06.2017 – 23 U 3769/16, Rn. 52 = NZG 2017, 1437, 1438 Damit scheidet eine Kompensation der Masseschmälerung bei Vorleistung der anderen Partei regelmäßig aus.BGH, Urteil vom 27.10.2020 – II ZR 355/18 Besteht die Vorleistung allerdings in der Übereignung unter (verlängertem) Eigentumsvorbehalt (wie es regelmäßig die AGB von Lieferanten vorsehen), ist die Gegenleistung als ausgleichender Massezufluss zu berücksichtigen, weil erst durch die Zahlung die vollständige Eigentumsübertragung zustande kommtBGH, Urteil vom 27.10.2020 – II ZR 355/18, Rn. 49 f (und damit keine Vorleistung des Zahlungsempfängers vorliegt).
110Zu beachten ist darüber hinaus, dass die als Ausgleich in die Masse gelangende Gegenleistung für eine Verwertung durch die Gläubiger geeignet sein muss.BGH, Urteil vom 04.07.2017 – II ZR 319/15 = DStR 2017, 2060
Das soll bei Arbeits- oder Dienstleistungen in der Regel nicht der Fall sein.BGH, Urteil vom 04.07.2017 – II ZR 319/15, Rn. 18 = DStR 2017, 2060, 2061
Lohn- und Gehaltszahlungen sowie Zahlungen an Dienstleister sind daher regelmäßig verbotene und damit erstattungspflichtige Zahlungen im Sinne des
111Auch Zahlungen für Energieversorgungs- und Telekommunikationsdienstleistungen sowie Entgelte für Internet und Kabelfernsehen sind ebenfalls erstattungspflichtig, weil die Gegenleistungen (Dienstleistungen) die für die Gläubiger verwertbare Aktivmasse nicht erhöhen und damit kein Ausgleich der Masseschmälerung durch die Zahlung sind.BGH, Urteil vom 04.07.2017 – II ZR 319/15, Rn. 19 = DStR 2017, 2060, 2062
112Soweit als Ausgleich ein für die Verwertung durch die Gläubiger geeigneter Gegenstand in die Masse gelangt, ist dieser für die Frage, ob es sich um eine auch wertmäßig ausgleichende Gegenleistung handelt, nach Liquidationswerten zu bemessen.BGH, Urteil vom 04.07.2017 – II ZR 319/15, Rn. 19 = DStR 2017, 2060, 2062 Geringwertige Verbrauchsgüter (wie im zugrundeliegenden Fall eine Kaffeelieferung) sind damit regelmäßig nicht als Ausgleich geeignet.BGH, Urteil vom 04.07.2017 – II ZR 319/15, Rn. 19 = DStR 2017, 2060, 2062
cc) Zahlungen im ordnungsgemäßen Geschäftsgang
113Während der Insolvenzantragsfrist sind Zahlungen im ordnungsgemäßen Geschäftsgang – und das ist eine der wesentlichen Änderungen der gesetzlichen Neuregelung – erlaubt, solange die Antragspflichtigen Maßnahmen zur nachhaltigen Beseitigung der Insolvenzreife oder zur Vorbereitung eines Insolvenzantrags mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters betreiben. Während das Zahlungsverbot nach alter Rechtslage vom Eintritt der Insolvenzreife an galt (sprich: Die Geschäftsleiter ab Eintritt von Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung einen sofortigen Zahlungsstopp verhängen mussten), dürfen sie nach neuer Rechtslage die Geschäfte befristet weiterführen und sowohl Ein- als auch Auszahlungen grundsätzlich „im ordnungsgemäßen Geschäftsgang“ zulassen. Damit ist die frühere Begrenzung auf die sogenannte Notgeschäftsführung abgeschafftBitter, GmbHR 2022, 57, 58 was eine Erleichterung darstellt. Wohlgemerkt ist die Fortführung des Unternehmens im ordnungsgemäßen Geschäftsgang nur solange zulässig, solange entweder Sanierungsmöglichkeiten ausgelotet werden oder ein Insolvenzantrag vorbereitet wird. Ein untätiges Abwarten bis zum Ende der Insolvenzantragsfrist ist also auch im Interesse einer zivilrechtlichen Haftungsvermeidung nicht opportun. In der Praxis wird diese Einschränkung voraussichtlich keine nennenswerte Bedeutung zukommen, zumal die Privilegierung für Zahlungen im ordnungsgemäßen Geschäftsgang gemäß § 15b III InsO ausdrücklich erst nach Verstreichenlassen der maßgeblichen Antragsfristen ohne Antragstellung entfällt.
114Die Privilegierung von Zahlungen im ordnungsgemäßen Geschäftsgang und die Sonderregelungen für Abgaben gemäß § 15b VIII InsO führen zu einem gegenüber der früheren Rechtslage völlig neuen (teils diametral veränderten) Verhaltenskodex für die Geschäftsleiter während der Insolvenzantragsfrist. Unter Zahlungen im ordnungsgemäßen Geschäftsgang sind insbesondere solche Zahlungen zu verstehen, die der Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs dienen.HK-Kleindiek, InsO, 11. Aufl. (2023), § 15b, Rn. 52 Demnach sollen alle Zahlungen erlaubt sein, denen ein objektiv denkender Gläubiger im Interesse einer vorläufigen, die Werte erhaltenden Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs zugestimmt hätte.Bitter, GmbHR 2022, 57, 59 Eine Beurteilung anhand derartiger Kriterien wäre natürlich höchst subjektiv geprägt, so dass diese als Maßstab letztlich nicht weiterhelfen. Demnach dürften nunmehr die folgenden Zahlungen erlaubt sein:
- Zahlung der Nettoarbeitslöhne,HK-Kleindiek, InsO, 11. Aufl. (2023), § 15b, Rn. 54; Bitter, GmbHR 2022, 57, 60; Gehrlein, DB 2020, 2393; a. A. Baumert, NZG 2021, 443, 446
- Die Bezahlung von Dienstleistungen innerhalb des ZahlungszielsHK-Kleindiek, InsO, 11. Aufl. (2023), § 15b, Rn. 54; Bitter, GmbHR 2022, 57, 59; a. A. Baumert, NZG 2021, 443, 446, 447
- Laufende Wasser-, Strom-, HeizkostenNoack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl. (2022),
- MietzahlungenBitter, GmbHR 2022, 57, 59; Noack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl. (2022),
- Sonstige Versorgungsleistungen wie Telekommunikation und InternetNoack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl. (2022),
- Betankung von FahrzeugenBitter, GmbHR 2022, 57, 59
- Die Zahlung von VersicherungsprämienNoack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl. (2022),
- Reparatur- und WartungsarbeitenNoack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl. (2022),
- Laufende Darlehensannuitäten (fällige Zins- und Tilgungsraten)Jakobs/Kruth, DStR 2021, 2534, 2537; Bitter, GmbHR 2022, 57, 61
115Damit die genannten Zahlungen innerhalb der Antragsfrist im ordnungsgemäßen Geschäftsgang „erlaubt“ sind, ist allerdings Voraussetzung, dass sie nicht rückständig sind, denn die schlichte Erfüllung von Altverbindlichkeiten ohne neuen Beitrag des Zahlungsempfängers zur Fortführung des Geschäftsbetriebs soll weiterhin nicht zulässig sein.Bitter, GmbHR 2022, 57, 59 Mit dieser Einschränkung dürfte der in der Praxis sehr häufig anzutreffende Sachverhalt, dass eine überfällige Lieferantenrechnung bezahlt werden muss, damit dieser Lieferant wieder Neuware liefert, – wenngleich vollkommen gegen die insolvenzrechtliche Systematik verstoßend – im Insolvenzantragszeitraum zulässig sein.Bitter, GmbHR 2022, 57, 60; Kübler/Prütting/Bork/Kebekus, 87. Lfg., 3/21, § 15b, Rn. 43: wenn eine für die Betriebsfortführung benötigte weitere Leistung des Zahlungsempfängers anders nicht zu erlangen ist
116Definitiv nicht im ordnungsgemäßen Geschäftsgang sind folgende Zahlungen:
- Rückführung von GesellschafterdarlehenBitter, GmbHR 2022, 57, 60; H.-F. Müller, GmbHR 2021, 737, 739; Noack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl. (2022),
- Mit Nachrang versehene DarlehenNoack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl. (2022),
- Die Erfüllung von lange offenen Verbindlichkeiten (Altverbindlichkeiten)Noack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl. (2022),
- Zahlungen vor FälligkeitNoack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl. (2022),
- InvestitionenH.-F. Müller, GmbHR 2021, 737, 739, jedenfalls wenn sie umfangreich sind; Bitter, GmbHR 2022, 57, 61
- Die Rückzahlung fälliger (Bank-)DarlehenJakobs/Kruth, DStR 2021, 2534, 2537 (im Sinne von Rückzahlung ganzer Darlehenstranchen oder des Gesamtdarlehens bei Endfälligkeit),
- Steuerverbindlichkeiten (§ 15b VIII InsO) sowie nach teilweise vertretener Ansicht Sozialversicherungsbeiträge (Näheres hierzu nachfolgend).
117Zum Teil wird behauptet, dass auch die vorstehend unter aa) ausführlich behandelte Forderungseinziehung auf ein debitorisches Konto nicht dem ordnungsgemäßen Geschäftsgang entspreche, weil damit unter Umständen während der Insolvenzantragsfrist noch die Bank zurückgeführt wird.Kübler/Prütting/Bork/Kebekus (87. Lfg. 3/21, § 15b, Rn. 43) Dem kann aber nicht beigepflichtet werden, allein schon deshalb, weil die Umleitung von Zahlungen auf ein kreditorisches Konto bei einer anderen Bank einen beträchtlichen Vorbereitungsaufwand erfordern kann (Neueröffnung eines Kontos!) und es bei den Kunden oftmals zu erheblichen Irritationen führt, wenn diese urplötzlich auf ein anderes als das gewohnte Konto bezahlen sollen. Die Aufrechterhaltung des üblichen Zahlungsverkehrs ist der Inbegriff des ordnungsgemäßen Geschäftsgangs.
118Durch die Neuregelung ist der Umgang mit steuer- und sozialversicherungsrechtlichen Pflichten während der Antragsfrist besonders schwierig geworden.
119Für die Lohnsteuer und die Umsatzsteuer ist nunmehr in § 15b VIII InsO klar geregelt, dass deren Verletzung keine persönliche Steuerhaftung der Organmitglieder nach §§ 34, 69 AO auslöst, so dass die unter dem alten Recht bestehende „Pflichtenkollision“ zwischen Massesicherungspflicht einerseits und Steuerzahlungspflicht andererseits eindeutig zugunsten der Massesicherungspflicht aufgelöst ist.Bitter, GmbHR 2022, 57, 63
Dies bedeutet wiederum auch, dass der Geschäftsleiter während der Antragsfrist steuerliche Pflichten gar nicht erfüllen darf, weil die Bezahlung suspendierter Steuerverbindlichkeiten nicht mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar wäre.Noack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl. (2022),
120Noch problematischer ist die Rechtslage nunmehr hinsichtlich der Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen, bei denen die Nichtzahlung des Arbeitnehmeranteils gemäß § 266a StGB strafbar ist. Hinsichtlich der sozialversicherungsrechtlichen Pflichten findet sich in § 15b InsO keine ausdrückliche Regelung; § 15b VIII InsO bezieht sich nach seinem Wortlaut eindeutig nur auf Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis. Eine Vielzahl von Autoren will nun § 15b VIII InsO analog auf die Nichtabführung von Arbeitnehmerbeiträgen zur Sozialversicherung während der Antragsfrist anwenden.Bitter, GmbHR 2022, 57, 64; Noack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl. (2022),
121Nicht diskutiert wird bislang, wie mit dem Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung umzugehen ist. Dessen Bezahlung müsste eigentlich im Rahmen des ordnungsgemäßen Geschäftsgangs während der Insolvenzantragsfrist zulässig sein, jedenfalls solange man nicht von einer analogen Anwendung von § 15b VIII InsO auf Sozialversicherungsbeiträge ausgeht. Aber auch diejenigen, die eine solche analoge Anwendung befürworten, sprechen immer nur von einer analogen Anwendung auf „Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung“.so jedenfalls Bitter GmbHR 2022, 57, 63; H.-F. Müller GmbHR 2021, 737, 739; lediglich Altmeppen, ZIP 2021, 2413, 2414, spricht pauschal von „Ansprüche der Sozialkasse“, wobei unklar ist, ob es sich hierbei um eine unbeabsichtigte Ungenauigkeit handelt, oder ob Altmeppen die Analogie von § 15b VIII InsO tatsächlich auf den Gesamtsozialversicherungsbeitrag erstrecken will Würde man § 15b VIII InsO nur auf die Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung analog anwenden, wäre das Chaos perfekt: Der Geschäftsleiter müsste dann während der Insolvenzantragsfrist die Arbeitgeberanteile zur Sozialversicherung im Rahmen des ordnungsgemäßen Geschäftsgangs abführen, während er hinsichtlich der Arbeitnehmeranteile gegenüber der Sozialkasse (und dem Strafgericht) aufgrund eines Analogieschlusses zu § 15b VIII InsO eine Privilegierung genösse und deswegen diese auch gar nicht abführen dürfte! Demnach müsste der Geschäftsleiter also genau umgekehrt handeln als vor der Gesetzesänderung, er müsste die Arbeitgeberbeiträge abführen und die Arbeitnehmerbeiträge einbehalten. Allein dies zeigt die Absurdität der geforderten analogen Anwendung von § 15b VIII InsO auf die Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung und es widerlegt das hierfür angeführte Argument, aufgrund der strafrechtlichen Privilegierung der Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung hätte es gar keinen gesetzlichen Korrekturbedarf gegeben.vgl. Bitter, GmbHR 2022, 57, 64 Sofern man nicht in Übereinstimmung mit AltmeppenAltmeppen, ZIP 2021, 2413, 2414 einen Analogieschluss von § 15b VIII InsO auf den Gesamtsozialversicherungsbeitrag zulässt, ist der Geschäftsleiter nach wie vor besser beraten, wenn er während der Insolvenzantragsfrist den Gesamtsozialversicherungsbeitrag (Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteil) abführt, und nach Verstreichen der Insolvenzantragsfrist weiterhin den Arbeitnehmeranteil zur Sozialversicherung abführt (wenngleich dies nunmehr unvermeidlich zu seiner Haftung nach § 15b III, IV InsO führt).
122Nach Stellung des Insolvenzantrags gelten diejenigen Zahlungen mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar, die mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters vorgenommen werden, § 15b II Satz 3 InsO. Ab Insolvenzantragstellung kann dem Geschäftsleiter also im Prinzip nichts mehr passieren, wenn er sich vollständig an die Direktiven des vorläufigen Insolvenzverwalters hält (was in der Praxis ohnehin so passiert). Schwieriger sind die Fälle, bei denen gar keine Insolvenzverwaltung angeordnet wird (z. B. bei einem bereits stillgelegten Geschäftsbetrieb). Dann gerät der Geschäftsleiter in ein äußert schwieriges Dilemma, was er zahlen soll und was nicht. Das Gesetzt regelt diese Konstellation nicht. Sofern der Insolvenzantrag rechtzeitig gestellt worden ist, dürfte die Fortsetzung der Zahlungen im ordnungsgemäßen Geschäftsgang (siehe oben) auch nach Insolvenzantragstellung (ohne vorläufigen Insolvenzverwalter) weiterhin zulässig sein (Argument, § 15b III InsO e contrario). Allerdings bestehen doch erhebliche Zweifel, ob nach der definitiven Entscheidung, einen Insolvenzantrag zu stellen, die Fortzahlung der Nettoarbeitslöhne (für die die Bundesagentur aufkommt) und der Mieten noch ordnungsgemäß ist. In einer solchen Konstellation ist bei jeder einzelnen Zahlungen sehr vorsichtig zu entscheiden.
d) Kappungsgrenze
123Ein weiteres Novum der gesetzlichen Neuregelung ist die Begrenzung der Geschäftsleiterhaftung auf den Gesamtgläubigerschaden, § 15b IV S. 2 InsO. Unter Geltung von § 64 GmbHG, § 130 a HGB, §§ 92 II, 93 III Nr. 6 AktG waren die verbotswidrig geleisteten Zahlungen hingegen ungekürzt zu erstatten,BGH, Urteil vom 08.01.2001 – II ZR 88/99, Leitsatz 3 sowie Rn. 31
was bei einem längeren Verschleppungszeitraum durchaus dazu führen konnte, dass der Erstattungsanspruch der Höhe nach sogar die Summe der Forderungen sämtlicher Insolvenzgläubiger einschließlich der Kosten des Insolvenzverfahrens überstieg. Eine Kürzung des Anspruchs um die im Rahmen des Insolvenzverfahrens erzielte Insolvenzquote fand nicht statt.vgl. Noack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl. (2022), § 64, Rn. 111
Damit die Insolvenzmasse durch den Haftungsanspruch nicht bessergestellt wurde (theoretisch wären dadurch Insolvenzquoten von über 100 % erzielbar gewesen), war dem Geschäftsleiter im Urteil vorzubehalten, den von ihm an die Insolvenzmasse im Rahmen seiner Geschäftsleiterhaftung erstatteten Betrag sodann (nach effektiver Erstattung) als Insolvenzgläubiger zur Tabelle anzumelden.BGH, Urteil vom 08.01.2001 – II ZR 88/99
Das lief sich natürlich im Ergebnis doch darauf hinaus, dass der Geschäftsleiter per Saldo – in Abhängigkeit von den Wertrelationen – maximal nur den Ausfallschaden der Gläubiger zu tragen hatte.Bei einer Insolvenzmasse von EUR 5,0 Mio. und Gläubigerforderungen von EUR 10,0 Mio. und einem Verschleppungshaftungsanspruch von EUR 100,0 Mio. hätte der Geschäftsleiter nach (theoretischer) Zahlung von EUR 100,0 Mio. an die Masse in dieser Höhe eine Insolvenzforderung anmelden können, wodurch sich die Insolvenzmasse auf EUR 105,0 Mio. und die Summe aller Gläubigerforderungen auf EUR 110,0 Mio. erhöht hätte, was zu einer Insolvenzquote von rund 95 % (anstatt vorher 50 %) geführt hätte; dem Geschäftsleiter wären also über die Insolvenzmasse rund EUR 95,0 Mio. zurückgeflossen, so dass er per Saldo nur rund EUR 5,0 Mio. bezahlt hätte, was ziemlich genau dem Ausfall der Gläubiger vor Inanspruchnahme des Geschäftsleiters entsprochen hätte; bei anderen Wertrelationen (höherer Masse und/oder höherer Summe der Gläubigerforderungen und/oder niedrigerer Geschäftsleiterhaftung hatte der Geschäftsleiter in der Regel sogar per Saldo einen geringeren Betrag als den Ausfallschaden aufzufüllen: Bei einer Insolvenzmasse von EUR 2,0 Mio. und Gläubigerforderungen von EUR 10,0 Mio. und einem Haftungsanspruch in Höhe von ebenfalls EUR 10,0 Mio. verbesserte sich die Quote durch die Haftungszahlung des Geschäftsleiters von 20 % auf 60 % (EUR 12,0 Mio. Insolvenzmasse und EUR 20,0 Mio. Gläubigerforderungen), so dass an den Geschäftsleiter EUR 6,0 Mio. zurückgeflossen wären, er per Saldo also „nur“ EUR 4,0 Mio. geleistet hätte, mithin nur die Hälfte des gesamten Ausfallschadens (EUR 8,0 Mio.) zu tragen gehabt hätte
Dies führte natürlich in der Praxis dazu, dass der hypothetische Quotenrücklauf im Rahmen eines Vergleichs von vorneherein berücksichtigt wurde. Entgegen anfänglichen Verlautbarungen, wonach der Quotenrücklauf mit der nunmehrigen Deckelung auf den Gesamtgläubigerschaden hinfällig ist,H.-F. Müller GmbHR 2021, 737, 741; davon, dass es der vom BGH gewählten Konstruktion nunmehr nicht mehr bedürfe, geht auch die Gesetzesbegründung aus, vgl. RegE SanInsFoG, BT-Drucksache 19/24181
tendiert die überwiegende Zahl der Kommentierungen und Veröffentlichungen nunmehr dazu, dass der nach der bisherigen BGH-Rechtsprechung im Urteil vorzubehaltende Quotenrücklauf weiterhin anwendbar ist, wenn dem Geschäftsleiter im Haftungsprozess der Nachweis eines geringeren Gesamtgläubigerschadens nach § 15b IV Satz 2 InsO nicht gelingt.So schon zu Beginn Gehrlein, DB 2020, 2393, 2398, der davor warnte, die BGH-Rechtsprechung voreilig für obsolet zu erklären; Noack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl. (2022),
124Wie der Gesamtgläubigerschaden als Kappungsgrenze zu berechnen ist, muss aus heutiger Sicht als offen angesehen werden. Im Wesentlichen werden die folgenden Berechnungskonzepte diskutiert:
- Quotenschaden: Sehr häufig wird als Gesamtschaden der Gläubigerschaft der „Quotenschaden“ genannt,vgl. BeckOK-Wolfer, InsORecht, 30. Edition, Stand: 15.01.2023, § 15b, Rn. 33; HK-Kleindiek, InsO, 11. Aufl. (2023), § 15b, Rn. 107-109
wobei diese Beschreibung schon begrifflich wenig weiterhilft.vgl. die karikaturistische Darstellung hierzu von Altmeppen, ZIP 2023, 721, 724 ff.
Gemeint ist damit wohl die Verschlechterung der Insolvenzquote (daher auch Quotenverschlechterungsschaden) zwischen dem Eintritt der Insolvenzreife (zu dem Zeitpunkt, zu dem korrekterweise Insolvenzantrag gestellt hätte werden müssen) und dem tatsächlichen Insolvenzantrag (oder der Insolvenzeröffnung, auch dies ist unklar). Damit entspräche die Deckelung dem sogenannten Altgläubigerschaden im Rahmen der deliktischen Haftung nach § 823 II BGB i. V. m. § 15a I InsO,vgl. Karsten Schmid/K. Schmid/Herchen InsO, 20. Aufl. (2023), § 15a, Rn. 34
der in der Realität mangels Darlegbarkeit des Schadens wohl so gut wie noch nie geltend gemacht wurde. Deswegen wird in der Literatur vertreten, dass die neu eingefügte Kappungsgrenze faktisch leerlaufen werde, weil der Gegenbeweis regelmäßig nicht führbar sei bzw. kaum gelingen dürfte.Gehrlein, DB 2020, 2393, 2397; HK-Kleindiek, InsO, 11. Aufl. (2023), § 15b, Rn. 109; Noack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl. (2022),
§ 64 Rn. 151
125Ob die Kappungsgrenze bei diesem Verständnis tatsächlich leerläuft, wird die Praxis zeigen müssen. Es erscheinen durchaus Sachverhaltskonstellationen denkbar, bei denen sich die Befriedigungsquote der Gläubiger über einen längeren Zeitraum nicht verändert, z. B. wenn sich bei einem seit längerem überschuldeten Unternehmen das Bilanzbild über die Jahre hinweg kaum verändert (immer dasselbe Forderungs- und Verbindlichkeitenvolumen, weitgehend konstantes Warenlager, da revolvierend), bei einer gleichbleibenden „schwarzen Null“ des Ergebnisses oder in solchen Fällen, in denen ohnehin schon das gesamte Aktivvermögen als Sicherheit weggegeben war, so dass die (ungesicherten) Gläubiger schon zu Beginn der Insolvenzreife keine realistische Quotenerwartung gehabt hätten. Ob der Beweis seitens des Geschäftsleiters für Umstände aus der Vergangenheit gelingt, wird letztendlich davon abhängen, ob die Instanzgerichte hierfür einen Strengbeweis fordern (dann wird der Beweis eher schwierig zu führen sein) oder in analoger Anwendung von § 287 ZPO eine plausible Darlegung der Kappungsgrenze genügen lassen.vgl. Jakobs/Kruth DStR 2021, 2534, 2540, die hier anhand Stichtagsbilanzen die Vermögenslage zu Beginn und am Ende des Haftungszeitraums gegenüberstehen wollen
- Verlust im Verschleppungszeitraum: Insbesondere Altmeppen vertritt (schon zum alten Recht) ein Verständnis der Insolvenzverschleppungshaftung als Verlustdeckungshaftung und sieht daher in der gesetzlichen Begrenzung der Haftung auf den Gesamtgläubigerschaden eine Deckelung des Anspruchs auf den im Verschleppungszeitraum eingetretenen Verlust.Altmeppen, ZIP 2023 721, 727 Demnach scheidet eine Insolvenzverschleppungshaftung aus, wenn ein Unternehmen während der Insolvenzverschleppungsphase Gewinne erwirtschaftet bzw. zumindest keine Verluste erleidet, und dabei soll es laut Altmeppen keine Rolle spielen, ob der Gewinn auf einem Glücksereignis beruht (als Beispiel wird hier die überraschende Wertsteigerung eines Betriebsgrundstücks aufgrund einer Änderung des Bebauungsplans genannt) oder ob umgekehrt aufgrund unglücklicher, vom Geschäftsleiter nicht zu verantwortende Entwicklungen, die mit der Insolvenzverschleppung gar nichts zu tun haben, ein unter Umständen sogar enormer Verlust eintritt (als Beispiel wird der Kurssturz eines Aktienpakets genannt)Altmeppen, ZIP 2023, 721, 727 . Die Geschäftsleiter haften demnach auch für Zufall (entsprechend § 287 S. 2 BGB).
126Eine Haftung für den im Verschleppungszeitraum realisierten Verlust (bzw. eine Begrenzung der Haftung auf diesen) wird sicherlich vor allem für kaufmännisch denkende Personen sehr gut nachvollziehbar sein und ist zweifellos eine sinnvolle Orientierung für die Verschleppungshaftung, wenn man den Anspruch nicht zu sehr akademisieren will. Ob sich das Kriterium des Verlusts im Vollstreckungszeitraum für den Gesamtgläubigerschaden als Kappungsgrenze durchsetzen wird, bleibt abzuwarten. Die Orientierung müsste sinnigerweise am handelsrechtlichen Verlust geschehen, um die Deckelung handhabbar zu machen. Leider will aber auch Altmeppen die von ihm gemeinten „Masseverluste“ nicht mit dem Bilanzverlust im Sinne der Rechnungslegungsvorschriften verwechselt wissen,Altmeppen, ZIP 2023, 721, 727 womit sein eigener Ansatz für die Praxis verwässert wird.
- Verringerung der Aktivmasse: Ferner wird vertreten, für den Gesamtschaden auf die Minderung des Werts des Gesellschaftsvermögens abzustellen, die während der Geltungsdauer des Zahlungsverbots eingetreten ist.H.-F. Müller, GmbHR 2021, 737, 741 Demnach bemisst sich der Gesamtschaden nach der Differenz zwischen der Vermögenslage der Gesellschaft bei Eintritt der Zahlungsunfähigkeit bzw. Überschuldung und der Vermögenslage zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens.H.-F. Müller, GmbHR 2021, 737, 741 Demnach wäre also ausschließlich auf die Veränderung des Aktivvermögens abzustellen. Die Schadensermittlung soll sich dabei an der Rechtsprechung zur Beraterhaftung wegen unterlassener Aufklärung über die Insolvenzreife der Gesellschaft orientieren.H.-F. Müller, GmbHR 2021 737, 741; zur Beraterhaftung: Neuberger, ZIP 2018, 909, 912 Bei diesem Ansatz bleibt offen, ob auch die im Verschleppungszeitraum gegebenenfalls anwachsenden Schulden in die Betrachtung mit einbezogen werden sollen (die Rede ist von „Schuldendeckungsfähigkeit“), oder ob es ausschließlich auf die (Verringerung der) Aktivmasse (als der späteren Insolvenzmasse) ankommt.
127Unter dem Gesichtspunkt der Handhabbarkeit ist auch diesem Schadensbegriff viel abzugewinnen. Sofern ein etwaiges Anwachsen der Schulden dabei außer Betracht bleibt (und so klingt es), dürfte der Ansatz aber kein Gehör finden. Sofern sowohl die Veränderung des Aktivvermögens als auch der Passivseite dabei zu berücksichtigen ist, dürfte darin kein Unterschied zum Verlust im Verschleppungszeitraum nach der von Altmeppen vertretenen Auffassung liegen.
- Projektbezogener Vermögensvergleich: Insbesondere von BitterBitter, GmbHR 2022, 57, 67 ff wird das Modell eines „projektbezogenen Vermögensvergleichs“ favorisiert.zustimmend HK-Kleindiek, InsO, 11. Aufl. (2023), § 15b, Rn. 109 Demnach könne man einzelne Geschäftsbeziehungen und Projekte abgrenzen und sofern diese per Saldo erfolgreich waren, wären die dafür geleisteten Zahlungen (selbst wenn an sich verboten) nicht masseschmälernd. Als Beispiele werden eine fortlaufende Geschäftsbeziehung genannt, bei der immer wieder Altrechnungen (verboten) bezahlt werden, per Saldo aber durch die anschließenden neuen Lieferungen kompensiert werden, so dass nur der Negativsaldo haftungsrelevant sein soll.Bitter, GmbHR 2022, 57, 67 Weitere Beispiele sind der Bau eines Hauses durch einen Generalunternehmer, zu dessen Fertigstellung ebenfalls zahlreiche verbotene Zahlungen geleistet werden, mit der Errichtung und dem Verkauf des Hauses aber insgesamt ein Gewinn erzielt werde.Bitter, GmbHR 2022, 57, 67 Ferner wird noch das Beispiel eines Seminaranbieters genannt, der seinen Referenten zwar verbotswidrig bezahlt, dennoch mit der Seminardurchführung einen Gewinn erzielt.Bitter, GmbHR 2022, 57, 6
128Ob sich dieses Modell in der Praxis durchsetzen wird, erscheint fraglich. Wirtschaftlich denkend hat es für sich, dass die Geschäftsleiter damit in der Verschleppungsphase nicht davon abgehalten werden sollen, gewinnträchtige Aufträge durchzuführen. Letztlich dürfte aber die Abgrenzung nach einzelnen „Projekten“ oder „Dauerlieferanten“ willkürlich sein. Folgt man einem Verlustdeckungsansatz, würden erfolgreiche Projekte den im Verschleppungszeitraum erlittenen Gesamtverlust mindern und sich daher auch insgesamt haftungsbegrenzend auswirken.
- Zur Gläubigerbefriedigung erforderlicher Betrag: Der Gesamtgläubigerschaden kann jedenfalls nicht größer sein als der Ausfall, den die Gläubiger im Insolvenzverfahren insgesamt erleiden. Auf diesen Teilbetrag, der für die vollständige Gläubigerbefriedigung genügt, ist der Anspruch in jedem Fall begrenzt.Kübler/Prütting/Bork/Kebekus 87. Lfg. 3/21, § 15b, Rn. 70 Ein überschießender Betrag würde dem Schutzzweck der Norm nicht entsprechen.Kübler/Prütting/Bork/Kebekus 87. Lfg. 3/21, § 15b, Rn. 70 Erhalten in einem Insolvenzverfahren die Gläubiger also beispielsweise 50 % ihrer Forderungen als Insolvenzquote, wäre der Gesamtgläubigerschaden maximal 50 % sämtlicher Gläubigerforderungen. Es dürfte kein Zweifel daran bestehen, dass der Gesamtgläubigerschaden jedenfalls nicht darüber hinaus gehen kann. Diskutiert werden könnte allenfalls noch, ob die Verfahrenskosten im Rahmen des Gesamtgläubigerschadens von den Geschäftsleitern noch zu tragen sind.
129Diese Deckelung führt aber zu einer geringeren Begrenzung des Haftungsanspruchs als der Quotenrücklauf aufgrund der bisherigen BGH-Rechtsprechung.BGH, Urteil vom 11.07.2005 – II ZR 235/03; BGH, Urteil vom 08.01.2001 – II ZR 88/99 Sofern diese Rechtsprechung aufrechterhalten wird (siehe hierzu die Ausführungen oben, https://gmbhg.kommentar.de/Abschnitt-5/15b-Insolvenzordnung-InsO-Zahlungen-bei-Zahlungsunfaehigkeit-und-Ueberschuldung-Verjaehrung#124), wäre eine solche Quotenbegrenzung ohne Mehrwert.
130Es bleibt abzuwarten, auf welche Berechnungsmethoden sich zunächst die Instanzgerichte einlassen werden und sodann, ob der BGH zu gegebener Zeit eine Entscheidung trifft, in welchem Sinne die Kappungsgrenze zu verstehen und welche Anforderungen an deren Darlegung zu stellen sind. Bis dahin bleibt nun ein weites Feld an Argumentationsmöglichkeiten in den jeweiligen Haftungsprozessen.
e) Subjektiver Tatbestand
131Die Haftung setzt ein Verschulden des Geschäftsleiters voraus, wofür einfache Fahrlässigkeit genügt.BGH, Urteil vom 27.03.2012 – II ZR 171/10 = ZIP 2012, 1174, Rn. 13
Werden Zahlungen aus dem Gesellschaftsvermögen nach Eintritt der Insolvenzreife geleistet, wird das Verschulden in der Regel vermutet.BGH, Urteil vom 27.03.2012 – II ZR 171/10 = ZIP 2012, 1174, Rn. 13
Die Erkennbarkeit der Insolvenzreife reicht aus, wobei selbst die Erkennbarkeit als Teil des Verschuldens vermutet wird.BGH, Urteil vom 27.03.2012 – II ZR 171/10 = ZIP 2012, 1174, Rn. 13
Der Geschäftsleiter ist deshalb gehalten, sich erforderlichenfalls durch eine fachlich qualifizierte Person beraten zu lassen.BGH, Urteil vom 27.03.2012 – II ZR 171/10 = ZIP 2012, 1174, Rn. 13
Wer notwendigen Rechtsrat nicht einholt, handelt schuldhaft.BGH, Urteil vom 27.03.2012 – II ZR 171/10
Das Verschulden trifft auch den Geschäftsleiter, der nicht für die Finanzangelegenheiten der Gesellschaft zuständig ist (z. B. der technische Geschäftsleiter). Die interne Geschäftsverteilung ist grundsätzlich unbeachtlich.MüKo-H.F. Müller, GmbHG, 4. Aufl. (2022),
132Es besteht daher eine ständige Pflicht zur wirtschaftlichen Selbstkontrolle.Noack/Servatius/Haas, GmbHG, 23. Aufl. (2022),
133Da das Verschulden bei Vorliegen der objektiven Tatbestandsvoraussetzungen vermutet wird, obliegt es dem Geschäftsleiter, den Exkulpationsbeweis anzutreten.Scholz/Bitter, GmbHG, 12. Aufl. (2021),
f) Anfechtbarkeit der verbotswidrig geleisteten Zahlungen
134Der Geschäftsleiter kann sich auch nicht darauf berufen, dass die verbotene Zahlung im Wege der Insolvenzanfechtung vom Zahlungsempfänger zurückverlangt hätte werden können oder noch verlangt werden könnte.BGH, Urteil vom 18.12.1995 – II ZR 277/94 = BGHZ 131, 325
Allerdings lässt der BGH in entsprechender Anwendung von
g) § 15b V InsO
135Nach
136Die einzige für die Praxis wichtige Folge von V ist, dass dem Geschäftsleiter gegenüber den Gesellschaftern ein Leistungsverweigerungsrecht zusteht,BGH, Urteil vom 09.10.2012 – II ZR 298/11 = BGHZ 195, 42, Leitsatz 3 und Rn. 18; Lutter/Hommelhoff/Kleindiek, GmbHG, 20. Aufl. (2020),
h) Verjährung
137Der Anspruch verjährt gem. § 15b VII InsO in fünf Jahren ab dem Zeitpunkt seiner Entstehung, bei börsennotierten Gesellschaften in zehn Jahren. Der Anspruch entsteht in dem Zeitpunkt, in dem die masseschmälernde Zahlung geleistet worden ist,BGH, Urteil vom 16.03.2009 – II ZR 32/08 = ZIP 2009, 956, Rn. 20
nicht erst mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder dessen Ablehnung mangels Masse.So aber Rowedder/Pentz/Schneider/M./Schmidt-Leithoff/, GmbHG, 7. Aufl. (2022), Anh. II
3. Abgrenzungen, Kasuistik
138Neben der Haftung nach
4. Prozessuales
139Im Prozess obliegt es zunächst der Gesellschaft bzw. dem klagenden Insolvenzverwalter, den Eintritt der Insolvenzreife darzulegen und zu beweisen. Mit Blick auf die Zahlungsunfähigkeit muss der Insolvenzverwalter entweder die liquide Unterdeckung anhand einer Liquiditätsbilanz oder die Zahlungseinstellung anhand objektiver Anhaltspunkte darlegen und beweisen. Kann der Insolvenzverwalter lediglich Umstände für eine Zahlungseinstellung dartun und beweisen, kann der Geschäftsleiter durch Vorlage einer Liquiditätsbilanz die gesetzliche Vermutung des
140Der klagende Insolvenzverwalter hat ferner sämtliche verbotenen Zahlungen konkret nach Höhe und Empfänger aufzuschlüsseln. Der Geschäftsleiter muss dann bei jeder einzelnen Zahlung darlegen und beweisen, dass diese entweder zu keiner Masseschmälerung geführt hat oder mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters vereinbar war.
141Örtlich zuständig für eine Klage nach
5. Anmerkungen
142§ 15b InsO hat eine herausragende Bedeutung in der insolvenzrechtlichen Praxis. Die Geschäftsleiter sollten sich zur Vermeidung einer Haftung in der Krise des Unternehmens unbedingt rechtlich beraten lassen.
Die vorstehenden Ausführungen stellen keine erschöpfende Darstellung sämtlicher in der Praxis auftretenden Probleme dar und ersetzen insbesondere keine fachmännische Beratung im Einzelfall. Insbesondere kann auch nur eine leichte Abweichung des Sachverhalts zu einer anderen rechtlichen Beurteilung führen als die vorstehenden Ausführungen es nahelegen, die sich eher an typischen Sachverhaltskonstellationen orientieren.
Die vorstehenden Ausführungen sind gründlich recherchiert und basieren auf zahlreichen Erfahrungen des Autors aus der Praxis. Dennoch können Fehler nicht ausgeschlossen werden. Eine Haftung für die Richtigkeit und/oder Vollständigkeit der vorstehenden Ausführungen ist ausgeschlossen.
Expertenhinweise
(für Juristen)